#Sachbuch

Im toten Winkel der Literatur

Annette Gilbert

// Rezension von Martin Sexl

Literatur? Schreiben? Lesen? Nicht nur, sondern (auch) »erzählen, dichten, reimen, (an-)ordnen, aufzählen, sammeln, kompilieren, annotieren, arrangieren, korrigieren, löschen, komponieren, setzen, übersetzen, alphabetisieren, sortieren, auszählen, gewichten, parsen, kodieren, generieren, programmieren, transkribieren, mitschreiben, abschreiben, abtippen, scannen, kopieren, appropriieren, vortragen, performen, herausgeben, edieren, auswählen, kuratieren, crowdsourcen, rahmen, vervielfältigen, reproduzieren, drucken, posten, bloggen, twittern, veröffentlichen, viral verbreiten, faken, hoaxen usw.« (S. 415) – Dass man über all das ein kohärentes, stringentes und ausgezeichnet lesbares wissenschaftliches Buch schreiben kann, beweist die Erlanger Komparatistin Annette Gilbert. Wie man allerdings dieser Sammlung, Quelle, Schatzkiste und Fundgrube ungemein interessanter und faszinierender Beispiele in einer Rezension auch nur halbwegs gerecht werden kann, wird sich zeigen. Let’s try!

Literarische Phänomene, die die Frage ihrer Präsenz – oder auch ihrer Abwesenheit – in ihrem Schreiben bzw. in ihrem ›Auftreten‹ nicht nur reflektieren, sondern gewissermaßen ausstellen, sind nicht nur als Werke für sich spannend, sondern auch deshalb, weil sie auf die Ermöglichungsbedingungen von Literatur ganz allgemein, auf die Grenzen dieser Bedingungen und auf die Frage der Verschränkungen und Vermischungen von Kunst und Literatur verweisen: »Die entsprechenden Versuchsanordnungen aus der literarisch-künstlerischen Praxis […] werden somit als substantieller Beitrag zur literaturtheoretischen Grundlagenforschung gelesen.« (S. 16) Die Werke der konkreten Poesie, der Gruppe Oulipo oder Stéphane Mallarmés Un coup de Dés jamais n’abolira le Hasard, »1897 in der Zeitschrift Cosmopolis erstmals erschienen und 1914 postum nach Mallarmés nachgelassenen Anweisungen in der Nouvelle Revue Française (nrf) bei Gallimard neu gesetzt« (S. 116), zählen zu den bekanntesten dieser Phänomene, die mit der Frage materieller Präsenz und der Bedeutung eines Textes sowie mit jener nach der Nicht-Präsenz von Materialität und den Grenzen von Sinn und Bedeutung gleichermaßen spielen.

Im vorliegenden Buch von Annette Gilbert wird schnell deutlich, dass es in der Geschichte und der Gegenwart experimenteller Literatur weit mehr als die genannten Beispiele gibt. Schon beim ersten Durchblättern fällt nicht nur auf, dass die Autorin immer von konkreten Fallbeispielen ausgeht und die nötige Literaturtheorie zur Erklärung der Praxis nutzt, sondern es wird auch rasch die unglaubliche Vielfalt und der Reichtum an ›ungewöhnlichen‹ Formen literarischen ›Schreibens‹ sichtbar, die Leser*innen nicht nur reich beschenken, sondern auch nahezu überfordern – dem Gefühl vergleichbar, das ein Londoner Kind verspüren mag, das sich ein Geschenk wünscht und von den Großeltern ins Hamleys geführt wird (das eines der größten, wenn nicht das größte Spielzeuggeschäft der Welt sein dürfte), um sich eines auszusuchen.

Um bei der Analogie zu bleiben: Annette Gilbert hat das Hamleys genauestens erforscht, seine Bestände gleichsam katalogisiert – »[d]as präsentierte Material stammt aus verschiedenen Literaturen und reicht von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart« (S. 25) – und die einzelnen Fundstücke analysiert. Sie hat darüber hinaus die Leser*innen des dabei entstandenen Opus im Kapitel I (»Werkwerdung: Zur Einleitung«) mit einer Gebrauchsanweisung ausgerüstet, d.h. einer ›Karte‹ zur Orientierung und dem notwendigen theoretischen Rüstzeug, das es ausgehend von praxeologischen Zugängen (etwa von Karl R. Hörning, Erving Goffmann, Pierre Bourdieu oder der empirischen Literaturwissenschaft) – die »texts as social poducts« (Donald F. McKenzie, zit. auf S. 23) begreift – erlaubt, die in der Literaturwissenschaft immer noch bestehende »Werkherrschaft« (ein Begriff von Ernst E. Hirsch von 1948, vgl. S. 21) und damit eine latente »Buchvergessenheit« (Carlos Spoerhase, zit. auf S. 164) – die »the ›bookness‹ of the book« (Johanna Drucker, zit. auf S. 165) ignoriert – innerhalb der Literaturwissenschaft zu durchbrechen. Diese hat durch »Kybernetik, Postmoderne, Poststrukturalismus, Dekonstruktion, Systemtheorie usw.« (S. 25) zwar gelernt, »Leitkonzepte und -kategorien wie ›Originalität‹, ›Autorschaft‹, ›Text‹, ›Werke‹« (S. 25) einer Fundamentalkritik zu unterziehen und für einen erweiterten Literaturbegriff zu plädieren, allerdings hat dieser »faktisch in der literarischen und literaturwissenschaftlichen Praxis jedoch nur sehr begrenzt Anwendung gefunden« (S. 28): In der Praxis der Komparatistik steht jener Begriff von Literatur im Zentrum, »der sich seit dem 18. Jahrhundert als Literaturbegriff der modernen bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hat« (Gottfried Willems, zit. auf S. 29).
Annette Gilbert rückt Phänomene in den Blick, die mit diesem bürgerlichen Literaturbegriff nicht einmal ansatzweise zu fassen sind. Diese ›Verrückung‹ gelingt ihr dadurch, dass sie die analysierten literarischen Phänomene mit künstlerischen Phänomenen und Künstler*innen verschaltet, die nicht nur schon seit geraumer Weile Gegenstand wissenschaftlicher Forschung (in der Kunstgeschichte) sind – Artistic Research, Art & Language, Marcel Duchamp, John Cage, Sol LeWitt, Donald Judd, Daniel Buren, Michael Asher, Yoko Ono, Nam June Paik, Richard Serra … – und dadurch terminologische, theoretische und methodische Anleihen ermöglichen, sondern die auch Teil »kunstübergreifender Tendenzen (Concept Art, Digital Art, Performance Art, Sound Art)« (S. 25) darstellen, innerhalb derer »hybride ›Gattungen‹ (Hypertext, Künstlerbuch, Multimedia-, Sprachinstallation, Poesiefilm etc.)« (S. 25) verortet werden können.

Diese Verortung erlaubt es auch, die »Werkwerdung« der Fundstücke zu untersuchen, also die Frage zu stellen, »unter welchen Umständen, in welchen Kontexten, in welcher Form, unter Mitwirkung welcher Praktiken, Faktoren und Akteure, wann und wodurch ein bestimmtes Objekt, ein Text zum (literarischen) Werk wird« (S. 15). Dass man sehr weit ausgreifen muss, um diese Frage zu beantworten, ist verständlich. Damit dieser Ausgriff und solchermaßen auch die Antworten plausibel werden, spannt Annette Gilbert einen grundsätzlichen Ordnungsrahmen auf (der wie alle Ordnungsrahmen kontingent ist), der – um wieder auf die eingangs erwähnte Analogie zurückzugreifen – die Unmenge an Spielsachen in Gruppen einteilt, wofür man als Leser*in dankbar ist.

Wie sieht dieser Ordnungsrahmen aus? Im zweiten Kapitel wird die »Problematik des Werkstatus« diskutiert. Anhand von Beispielen, bei denen es keinen Text mehr gibt, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne, können fundamentale Fragen nach den »ontologischen Vorannahmen im Umgang mit literarischen Werken« (S. 33) gestellt werden, wobei die Verfasserin die Begriffe der »Ideen- bzw. Konzeptliteratur« (eine Analogie zur »Konzeptkunst«), der »propositionalen Literatur« oder der »immateriellen Literatur« austestet. Bei der Diskussion des Werkstatus wird deutlich, dass die analysierten Phänomene manchmal als singuläres Original auftreten und somit in einen Gegensatz zu dem geraten, was Literatur in der Regel ausmacht, nämlich in Form »massenweise[r] gedruckter identischer Bücher« (S. 41) aufzutreten, und manchmal auch überhaupt nicht mehr aus einem identifizierbaren Werk oder einem gegenständlichen Buch/Text bestehen, wie Elisabeth Tonnards Invisible Book von 2012 (vgl. S. 60ff.). Warum man die analysierten Beispiele trotzdem als Form der Literatur (oder als hybride Form ›zwischen› Kunstwerk und Literatur) auffassen kann, macht Annette Gilbert in aller wünschenswerten Klarheit und Differenziertheit deutlich.

Dass es ohne »Materialität als conditio sine qua non literarischer Werke« (S. 33) allerdings nicht geht, wird im dritten Kapitel (»Zur Problematik der Werkmaterialität und -integrität«) erläutert. Auch wenn es in extremis kein identifizierbares Werk mehr geben mag, so gibt es doch zumindest Para- und Metatexte und einen institutionellen Kontext, der aus einem Etwas Kunst oder Literatur macht. Und diese Para-, Meta- und Kontexte müssen sich materialisieren, in welcher Form auch immer. Anhand der diskutierten Beispiele macht Annette Gilbert deutlich, dass der Text von der Physis seiner konkreten Erscheinung (vgl. S. 111) – und solchermaßen die Botschaft von ihrer Vermittlung – nicht abgelöst werden kann, auch wenn die philologische Tradition diese Trennung meist als selbstverständlich annimmt. Man muss also die grundsätzliche »Ortsspezifik« von Texten berücksichtigen, die in den diskutierten Beispielen »bewusst in ihre Konzeption« (S. 116) eingeschlossen wird. Annette Gilbert diskutiert und theoretisiert diese »Ortsspezifik« mit einer ausgefeilten (und vor allem, aber nicht nur, von Gérard Genette herrührenden) Theorie der Paratextualität, die es ihr erlaubt, die Möglichkeiten und Formen der Überschreitung der Grenze zwischen Werk und Realität (vgl. etwa S. 203) – beispielsweise durch Vorwort, Rechtehinweise, Impressum oder Errataliste – auszubuchstabieren. Auch die materielle Präsenz literarischer Texte (d.h. ihre Zwei- oder gar Dreidimensionalität) wird ausführlich beschrieben und erläutert.

Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der »Problematik der Werkzuschreibung und -identität«. »Zuschreibung von Autorschaft und die Feststellung von Werkidentität [ist] kein auf objektiven Fakten beruhender, rein klassifikatorischer, sondern ein evaluativer und damit streitbarer Akt« (S. 35). Wie in den anderen Kapiteln werden auch hier faszinierende Einblicke in faszinierende Kunstwerke respektive literarische Texte geboten. Eine große Stärke von Annette Gilbert wird auch in diesem Kapitel deutlich sichtbar: die umfassende Kontextualisierung der besprochenen Werke. So umfasst die Analyse der Gedichtanthologie Issue I aus dem Jahre 2008 – deren Herausgeber Stephen McLaughlin und Jim Carpenter »Texte mithilfe der von Jim Carpenter geschriebenen Software Erica T. Carter aus vorgegebenen Wörterbüchern und Korpora generiert und ihnen per Zufallsgenerator Autorennamen [Anm.: von real existierenden Autor*innen] zugeordnet« (S. 211) und so ein 3.782 Seiten umfassendes Werk von 3.164 Autor*innen geschaffen haben – nicht nur das Werk als solches, sondern auch die (nicht immer amüsierten) Reaktionen darauf und die Reaktionen auf die Reaktionen. Auch Werke der Appropriation Literature werden ebenso präzise beschrieben und unter Zuhilfenahme einer ausführlichen kunsttheoretischen wie -philosophischen Debatte (Nelson Goodman, Arthur C. Danto et al.) erklärt, etwa Jorge Luis Borges‘ Pierre Menard, autor del Quijote (1939), Elaine Sturtevants Sturtevant. Author of the QUIXOTE (1970/2009) oder Sherrie Levines gustave flaubert. un cœur simple (1990). Annette Gilbert analysiert Beispiele, bei denen ein Text zwei verschiedene Werke oder zwei verschiedene Texte ein Werk bilden.

Auch die Frage der Übersetzung respektive der Übersetzbarkeit wird nicht ausgespart. Anhand von Dan Grahams Poem (1966) – »es besteht aus einer Auflistung von 28 durchweg selbstbezüglichen Parametern, die sowohl grammatische Merkmale des Gedichttextes (z.B. ›(number of) adjectives‹) als auch die äußere Erscheinung (z.B. ›(name of) typeface‹ und die materiale Beschaffenheit des Druck(-bild)s (z.B. ›(type of) paper stock‹) in Abhängigkeit vom jeweiligen Publikationsort betreffen« (S. 278/280) – erläutert Annette Gilbert die Grenzen der Übersetzbarkeit: Wenn man das Gedicht nah am Text übersetzt, dann ›stimmt‹ es gewissermaßen nicht mehr, weil sich im Deutschen beispielsweise die Grammatik ändert oder die Typographie und die Papierart von Ausgabe zu Ausgabe variiert. Wenn man das Gedicht aber der jeweiligen Sprache oder Ausgabe anpasst, dann hat man es nicht mehr mit einer Übersetzung, sondern mit einem neuen Gedicht zu tun. Wie in den Analysen anderer Beispiele wird auch hier rasch der Mehrwert des Buches für die literaturwissenschaftliche Arbeit generell sichtbar: Anhand ›extremer‹ Beispiele können allgemeine (theoretische, praktische, methodische etc.) Eigenheiten und Probleme in einer Deutlichkeit herausgearbeitet werden, die bei literarischen Texten im ›herkömmlichen‹ Sinne zwar ebenso eine Rolle spielen, in der Regel aber weit weniger ins Auge stechen.

Das fünfte Kapitel (»Zur Problematik der Werksozialität und -autonomie«) widmet sich einem Gegensatz, der den Kunst- und Literaturwissenschaften nicht fremd ist, nämlich dem zwischen der »Sozialität literarischer Werke, die als solche immer auf eine gewisse Öffentlichkeit hin entworfen sind«, und »deren Autonomie« (S. 35). Annette Gilbert greift in diesem Kapitel noch einmal dezidiert die Frage nach »Ortsspezifik und Kontextsensitivität« auf (S. 321) und macht klar – unter anderem unter Zuhilfenahme von Gérard Genettes Theorien und Begriffen –, »daß jeder Kontext als Paratext wirkt« (Gérard Genette, zit. auf S. 322). Die Ansicht von Gérard Genette, der – wie die Literaturwissenschaft generell – »diese Aspekte nur am Rande behandelt« (S. 322), wird von Annette Gilbert ins Zentrum der theoretischen wie praktischen literaturwissenschaftlichen Arbeit gestellt, wodurch nicht nur die besprochenen Werke, sondern – wie schon festgehalten – auch allgemeinere Probleme zugänglich werden. So können etwa anhand von Nick Thurstons Gedichtband Of the Subcontract; Or Principles of Poetic Right (2013), in dem 100 von bezahlten Ghostwritern geschriebene Gedichte unter Thurstons Namen zu finden sind, Fragen von Urheberrecht und Autorschaft diskutiert werden, die Thurstons Werk (wie auch andere) wieder in die Nähe von Werken der (bildenden) Kunst rückt, denn »[w]riters are becoming curators of language, a move similar to the emergence of the curator as artist in the visual arts« (Kenneth Goldsmith, zit. auf S. 345).

Es werden auch Werke ins Spiel gebracht, die – wie Stéphane Mallarmés Le Livre – »nie Werkstatus erreicht [haben].« (S. 371) Annette Gilbert kann überzeugend nachweisen, dass auch solche Werke »Literaturgeschichte geschrieben und die nachfolgenden Generationen beeinflusst« haben (S. 371). Mit diesem Satz – und dem ganzen Buch! – widerlegt Annette Gilbert im Übrigen – und zum Glück! – den folgenden Satz aus der Einleitung, der die erst im Jahre 2114 zugänglichen Texte der von der schottischen Konzeptkünstlerin Katie Paterson begründeten Future Library folgendermaßen beschreibt: »Solange der Zugang zu ihnen verstellt ist, können sie keine kulturelle und literarische Relevanz erlangen. Die Texte sind für lange Zeit faktisch zur Wirkungslosigkeit verdammt […]. [Die Texte müssen darum bangen], überhaupt jemals Werk und Teil der Literatur und Kultur werden zu können.« (S. 14) Im Gegenteil: Annette Gilbert beweist entgegen ihrer eigenen Aussage, dass auch nicht existierende Werke »kulturelle und literarische Relevanz erlangen« können.

Dass dies eher im Kontext der Kunst als in dem der Literatur geschieht – ja, dass die »Abwanderung ins Museum und in die Kunstwelt« geradezu als »›Überwinterungsstrategie‹« (S. 418) genutzt wird –, ist Gegenstand des sechsten und letzten (und kurzen) Kapitels, das als Resümee und Ausblick gleichermaßen dient. Die Rezeption der im Buch analysierten Werke im Kunstkontext macht deutlich, dass die »Praktikabilität der Werkkategorie als solcher […] unangetastet [bleibt], auch wenn die in der Studie vorgestellten Werke essentielle Aspekte der Praxis und der Theorie des Werks auf die Probe stellen und in der Folge eingebürgerte Vorstellungen vom literarischen Werk und habitualisierte Umgangsweisen neu justiert werden müssen.« (S. 36)

Annette Gilbert fügt aber auch dezidiert hinzu, »dass es Werke nicht einfach ›gibt‹« (Steffen Martus, zit. auf S. 413), sondern dass diese erst durch Handlungen im Feld der Kunst und der Literatur generiert werden. Damit aus einem Etwas ein Kunstwerk oder Literatur wird, braucht es mehr als »die kategorialen Setzungen der Autoren« (S. 413), denn diese müssen »auch Akzeptanz und Nachvollzug in der Rezeption finden« (S. 413). Auch Interpretationen der Werke gehören zu jenen Handlungen, die zu »Akzeptanz und Nachvollzug« führen, und Annette Gilberts Interpretationen sind plausibel, detailliert, weit ausgreifend, ungemein reichhaltig und faszinierend. (Allenfalls – aber jetzt kommt der Erbsenzähler im Rezensenten zum Vorschein – hätte man ein wenig stärker in den Vordergrund rücken können, dass gerade bei den vorgestellten Werken auch noch andere Lesarten möglich und plausibel gewesen wären.) Das Buch schließt mit einem Aufruf an die Literaturwissenschaft, auch ungewöhnliche Werke der Literatur zu untersuchen, um diesen durch »qualifizierte kritische Begleitung, Diskussion und Vermittlung« (S. 426) die Möglichkeit zur »vollständigen Entfaltung« (S. 426) zu schaffen.

Zu einer Rezension gehört das Beckmessern dazu, aber was auf den ersten Blick kritikwürdig erscheint, entpuppt sich auf den zweiten als Stärke: Manchmal wirkt das Buch ein wenig additiv – aber wie sonst soll man in dem unübersichtlichen Haufen so unterschiedlicher Werke und Phänomene etwas schnell finden?! – und manchmal werden Definitions-, Abgrenzungs- und Gattungsfragen vielleicht eine Spur zu ernst genommen – aber ist das nicht auch der Job der Wissenschaft?! Eine solche Kritik ist aber nicht nur kleinlich, sondern auch unfair, denn Annette Gilberts Buch bietet ganz großes Kino: 70mm, Cinemascope, Überlänge, Dolby Surround, kantige Protagonist*innen, verwickelte Erzählverläufe, ungewöhnliche Schnitte etc. – ein langer, spannender und unvergesslicher Kinoabend.

Annette Gilbert Im toten Winkel der Literatur
Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren.
Paderborn: Wilhelm Fink, 2018.
464 S.; geb.; m. s/w Abb.
ISBN 978-3-7705-6293-0.

Rezension vom 20.08.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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