#Sachbuch

Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag

Hans Höller, Arturo Larcati

// Rezension von Veronika Hofeneder

Als Ouverture zu der im Entstehen begriffenen Salzburger Bachmann-Edition, der sie als Herausgeber verbunden sind, verstehen Hans Höller und Arturo Larcati ihre faszinierende Studie rund um Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“. Dieses gemeinhin (und wohl nicht zu Unrecht) als ihr „schönstes“ bezeichnete Gedicht ist Teil eines bisher unentdeckt gebliebenen Lyrikzyklus von insgesamt sieben Gedichten, die Bachmann auf einer Reise von Berlin nach Prag im Jänner 1964 schrieb. Sehr behutsam und höchst präzise zeichnen Höller und Larcati die Entstehungsgeschichte dieses Winterreise-Zyklus nach und beleuchten methodologisch versiert dessen intertextuelle und biographische Referenzen.

Am Anfang des Bandes steht der Abdruck der Gedichte Enigma, Prag Jänner 64, Böhmen liegt am Meer, Wenzelsplatz, Jüdischer Friedhof, Poliklinik Prag und Heimkehr über Prag inklusive Kommentar, textkritischen Anmerkungen und Überlieferungsgeschichte (S. 11-31), dann folgen sechs analytische Kapitel, die sich dem Gedichtzyklus aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Die interpretatorische Spurensuche umfasst Bachmanns intensive Bezugnahme auf andere SchriftstellerInnen (so z. B. die vielfältigen Verweise auf Shakespeare in diesem Winterreise-Zyklus, aber auch auf Paul Celan, Jean Améry, Ilse Aichinger u. v. m.), ihre beiden Pragreisen im Jahr 1964 sowie die realpolitischen Geschehnisse des sich anbahnenden Prager Frühlings im selben Jahr. Darüber hinaus wird die inspirative Wirkung des Böhmen-Gedichts auf andere KünstlerInnen dargestellt, wie z. B. auf Anselms Kiefers Gemälde, Thomas Larchers Vertonung, Getraude Stügers photographische Installation oder Thomas Bernhards Arbeit mit Bachmannschen Motiven in seinem Roman Auslöschung.

Als wesentlichen Aspekt bei der Textinterpretation streichen Höller und Larcati Bachmanns Zusammenbruch und Krankheit infolge der Trennung von Max Frisch heraus, die in dieser Ausführlichkeit bisher noch nicht dargestellt wurde (v. a. S. 51-74). Für Bachmann war die Trennung von Frisch lebensentscheidend, sie bezeichnete diese als ihre größte Niederlage und als totalen Zusammenbruch. Angst vor Indiskretion ist hier jedoch völlig unberechtigt, litt doch Bachmann selbst auch daran, sich in ihrer Not an niemanden mehr wenden zu können, in Das Buch Goldmann führt sie vor, dass das Einsperren in Diskretionsgeboten tödlich enden kann. So drängen Bachmanns Werke aus den letzten zehn Jahren ihres Lebens geradezu darauf, „mit ihrem nicht nur fiktionalen kreatürlichen Elend wahrgenommen und verstanden zu werden, mit ihren Schmerzen, die sich der Sprache entziehen wollen und die sie doch zu benennen versuchte, damit man davon weiß.“ (S. 47) Ein Gedicht wie Böhmen liegt am Meer empfand sie daher als Zufall und Geschenk, „seine Entstehung bedeutete für sie das Glück, dennoch und trotzdem und gegen die zunehmende Aussichtlosigkeit ihres Zustandes etwas geschaffen zu haben, das wie aus sich selber zu leben scheint, seinen eigenen künstlerischen Gesetzen folgend, und in dem doch alles enthalten ist, was ihre Wirklichkeit ausmachte.“ (S. 47)

Die üblicherweise von der Literaturwissenschaft scheel, wenn nicht sogar als Sakrileg betrachtete Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Zusammenhänge für die Werkgenese ist in Höllers und Larcatis Analyse immer und in jeglicher Hinsicht überzeugend und wie die Autoren selbst unterstreichen „jeder theoretischen Anstrengung wert, denn es geht hier um die Frage der Notwendigkeit der Kunst im Leben.“ (155) So bekannte sich Bachmann selbst in einem Interview zu Goethes Begriff des „Erlebnisgedichtes“, dessen unbedingten Bezug zur Wirklichkeit dieser selbst in seinen Gesprächen mit Eckermann betont hatte: „Alle meine Gedichte sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte ich nichts.“ (S. 146) „Grund und Boden“ – auch im engen geologischen Sinn – können durchaus als Leitvokabeln des theoretischen und literarischen Werks der Bachmann angesehen werden. So erfolgte Bachmanns schriftstellerische Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit in den Jahren der Entstehung des Winterreise-Zyklus in „Begriffen der Erdgeschichte“ (S. 80); im Wüstenbuch (1964/65), im Buch Franza (1965/66) und in den persönlichen Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit wendet sie sich der Sprache der Geologie zu und begreift die neue „geologische Poetik“ wörtlich als Hilfswissenschaft. So ist das Zugrundegehen in Böhmen liegt am Meer nicht als Untergang zu verstehen, sondern als ein „Auf-den-Grund-Kommen“ und ein „Begreifen des Grunds der Dinge“ (S. 9, A. 1): „Zugrund – das heisst zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. / Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. / Von Grund auf weiss ich jetzt, und ich bin unverloren.“ (S. 17)

Ein weiterer Schlüssel zum biographischen Verständnis des bachmannschen Schreibens liegt in den theoretisch avancierten Formen des Literatur- und Musikverständnisses der Moderne: Adorno und Freud verstehen das im Leben und Schreiben sich manifestierende Weltwissen als ein alle und jeden angehendes Ereignis, das nicht auf die Kunstsphäre beschränkt ist, sondern in den Alltag hineinreicht. Und auch Bachmann verstand es, die noch so kleinen Zufälle des Lebens „sehend“ zu machen, ihnen ein „zweites Gesicht“ zu verleihen, so dass auch der alltäglichste Zufall einen Horizont bis in die Weltliteratur eröffnet. Um die Verletzung, das Trauma des Menschen kreisen sowohl Freuds Psychoanalyse als auch Adornos Musikphilosophie, bei beiden gibt es die Vorstellung eines harmonischen, geschlossenen Werks nicht. Die Problematik dieser geschlossenen Werkidee ist auch bei Bachmann offenkundig, was sich nicht zuletzt in einem einzigen zu Lebzeiten vollendeten Roman (Malina) zeigt. Schreiben bedeutete für die Schriftstellerin demnach auch die Zurückeroberung von Autorschaft, die ihr allzu oft von ihren männlichen Schriftstellerfreunden (Celan, Weigel, Frisch) in deren literarischen Verwertungen ihrer Person aberkannt worden war.

Eine der Formen der Wiederherstellung der Autorschaft stellen die komplexen und von Höller und Larcati präzisest nachgezeichneten Entstehungsgeschichten der vollendeten Gedichte des Winterreise-Zyklus dar (Enigma, Prag Jänner 64, Böhmen liegt am Meer). Sie weisen in ihren Textgenesen den Weg heraus aus dem Trauma in den Raum eines befreienden literarischen Erinnerns und dokumentieren als einzigartige historische Dokumente die „Geschichte im Ich“ nach 1945. Im nachdenklichen Angrenzen und Aneinandergrenzen sowie im Bewusstsein der in ihrem Erzählband Simultan entworfenen Poetik, dass Sprachen „sich nie ganz begegnen“, liegt Bachmanns Ethik des Schreibens im Postholocaust begründet: Im Hinblick auf ein neues Gefühl für Differenz und im Bewusstsein auf die Unterschiede des Erlebten drängt sie mit dem Wissen um die Katastrophe und deren Folgen auf die Notwendigkeit hin, einen anderen sozialen und politischen Ort zu schaffen, der frei von Macht und Besitz ist und bei Bachmann „Böhmen“ heißt, das „am Meer“ liegt: „Grenzt hier ein Wort an mich, so lass ichs grenzen. / Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. / Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.“ (S. 17) Das „Böhmische“ umfasst bei Bachmann abseits historischer Reminiszenzen und geographischer Fakten die utopische Verheißung einer messianischen Dimension. Böhmen und Prag gehören für die Autorin zum „Haus Österreich“, das ihr das liebste Wort für ihr Herkunftsland war, befreit von allem, was einmal territoriale Herrschaft, Besitz und Machtpolitik gewesen war: „Ich grenz noch an ein Wort, und an ein andres Land, / ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr.“ (S. 17)

Dem einzigen Einwand, der sich beim Lesen des Bandes einstellen mag, nehmen die Autoren in ihrer Schlussbemerkung den Wind aus den Segeln. So finden sich nämlich viele Wiederholungen im Text, was tatsächlich jedoch weniger irritierend als vielmehr inspirierend ist, da sich auf diese Weise die vielfältigen Bedeutungszusammenhänge der Motive sehr eindrücklich erschließen. Auch der teilweise inkonsistente Gebrauch der Zeiten wurde mit Absicht belassen, da diesem auch eine modale Bedeutung zukommt, die „mit Nähe und Abstand und mit emotionaler Beteiligung zu tun hat“ (S. 167). Eine mögliche Leseanleitung für diese höchst anregend geschriebene und in jeglicher Hinsicht mit großem Gewinn zu lesende Studie geben Höller und Larcati in ihrem Schlusssatz, der nochmals das Bachmannsche Verständnis des Zufalls („was einem zufällt“) aufgreift: „Und ganz leicht wird das ganze Buch nicht zu lesen sein. Aber man muss es nicht von vorn nach hinten lesen, man kann überall zu lesen anfangen, weil alles ‚irgendwie‘ miteinander verbunden ist.“ (S. 168)

Hans Höller, Arturo Lacarti Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag
Die Geschichte von „Böhmen liegt am Meer“.
München, Berlin: Piper, 2016.
176 S.; geb.
ISBN 978-3-492-05809-4.

Rezension vom 11.01.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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