#Sachbuch

Schnitzler's "Fräulein Else" und die nackte Wahrheit

Alexandra Tacke

// Rezension von Anna Obererlacher

„Nein, ich habe mich nicht geniert. Nackt bin ich dagestanden vor allen Leuten. Wenn ich nur reden könnte, so würdet Ihr verstehen warum. Paul! Paul! Ich will, daß Ihr mich hört.“1

So die verzweifelte Protagonistin in Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else aus dem Jahr 1924. Rund 100 Jahre später werden auf der Fotosharing-Plattform Instagram Bilder zensiert, auf denen entblößte Frauenbrüste zu sehen sind. Was hat nun die Reaktion eines Novellencharakters aus den 1920er Jahren mit den allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Social-Media-Imperiums zu tun? In beiden Fällen geht es um die Kontrolle von Frauen über die Repräsentation ihrer Körper. Ein Thema, mit dem sich auch Alexandra Tacke in ihrer Monographie Schnitzlers „Fräulein Else“ und die nackte Wahrheit. Novelle, Verfilmungen und Bearbeitungen befasst.

In Schnitzlers Novelle steht eine junge Frau namens Else bei einem Hotelaufenthalt in feiner Gesellschaft vor dem Dilemma, ihrem geliebten Vater nur aus Geldnöten helfen zu können, indem sie sich vor dem wohlhabenden Herrn von Dosday nackt zeigt. Ein Skandal hinter verschlossenen Türen, bei dem die Liebe zum Vater mit dem Verlust der Würde bezahlt werden soll. Else entscheidet sich, Dorsday den exklusiven Blick auf ihren unbekleideten Körper zu entziehen, indem sie ihre Hüllen in Anwesenheit der übrigen Hotelgesellschaft fallen lässt. Dadurch wird der „private Skandal […] zu einem öffentlichen. Der Anblick der Nacktheit führt zu keinem ästhetischen Hochgenuss, sondern löst nachhaltiges Entsetzen aus“ (S. 13). Das Ereignis raubt Else schließlich auch buchstäblich den Atem und sie bricht zusammen. Auch heute noch setzen Frauen aufs Ganze, um den Anspruch auf das eigene Bild zu reklamieren, indem sie ihren Körper zum Politikum erklären. Die Relevanz der Schnitzler’schen Novelle ist so bis heute ungebrochen und seit ihrer Veröffentlichung bietet sie Anstoß für Kunstprojekte aller Art. Genau mit diesen verschiedenen medialen Bearbeitungsformen hat sich Alexandra Tacke in ihrer rund 200-seitigen Monographie auseinandergesetzt: vom Stumm- und Tonfilm, über Hörspiele und Internetliteratur bis hin zur Darstellung im Comic.

Dabei spielt dieses Gehörtwerden, von dem Else spricht, bzw. die Aneignung einer eigenen Sprache, um das wortwörtlich unerhörte Ereignis, das Unzeigbare, Unbeschreibbare und Unfassbare vermitteln zu können, eine zentrale Rolle in Tackes Betrachtungen. Das hat zuvorderst mit dem in der Novelle omnipräsenten Thema der Nacktheit zu tun. So widmet sich Tacke im ersten Abschnitt der Monographie der weiblichen Nacktheit um 1900 und schließt mit einem Kapitel zur Femen-Bewegung, die den nackten Körper in der Vermittlung feministischer Botschaften zum Medium macht.

Die Analysen der einzelnen Fräulein Else-Bearbeitungen stehen daher auch immer mit der Frage in Verbindung, wie sich Intermedialität und Medienwechsel auf die Konstruktion und Konstitution von Else auswirken. Tacke kommt es dabei weniger auf die „Pathologisierung von Else [an,] als auf die Modernität des Textes, die gerade in seinem Spiel mit der Sprachlosigkeit sowie der schamlosen Enthüllung der (Sprach-)Zeichen besteht“ (S. 18). Das zeigt sich bereits in der Novelle selbst auf mehreren Ebenen, etwa am Schriftbild, den Satzzeichen und schließlich dem Körper selbst: als der Sprache der Frau. Mit ihm werden „Zeichen gesetzt und Tatsachen geschaffen. Ihn gilt es zu verstehen und zu entziffern, verändert sich dadurch und mit ihm schließlich langsam das Bild der Frau“ (S. 29). Diese Zeichen konnten Frauen im Fin de Siècle etwa mit Hilfe neuer Medien, wie der Fotografie und dem Film, setzen. Wie Tacke zeigt, gelang es Fotografinnen wie Marianne Breslauer, Madame d’Ora und Trude Fleischmann in ihren Aktbildern, den Frauenkörper vom männlichen Blick gelöst in Szene zu setzen. Fotografien wie diese, von denen einige im Buch abgedruckt sind, aber auch andere Kunstformen, wie etwa die Bühnenperformances der Tänzerin Olga Desmond, dürften Schnitzler als Inspirationsquelle gedient haben. So ist die Novelle bereits von Beginn an von verschiedenen medialen Darstellungsmöglichkeiten umgeben und durchdrungen, etwa durch die Ergänzung von Textstellen durch Noten Robert Schumanns. Auch hat sich Schnitzler selbst aktiv um die Verfilmung der Novelle bemüht, die noch zu seinen Lebzeiten unter der Regie von Paul Czinner realisiert werden sollte.

Tacke ist in ihren Analysen auch auf eine ästhetische Einordnung der Bearbeitungen bedacht und befragt die jeweiligen Projekte kritisch auf die Position Elses hin. Angesichts der Bandbreite an Bedingungen, zu denen die jeweiligen Medien funktionieren, ist das eine schwierige Aufgabe. Tacke bewältigt diese aber nicht nur gewissenhaft, sondern wird sprachlich auch dem jeweiligen Medium gerecht, um die Vorstellungskraft selbst an jenen Stellen zu aktivieren, wo sprachlicher Ausdruck zu kurz zu greifen droht. Dem Anspruch, den Tacke an die Monographie stellt, „[d]as innovative Potential der einzelnen Adaptionen herauszuarbeiten, die als eigenständige Werke verstanden werden sollen“ (S. 21), wird sie eindeutig gerecht.

Der Streifzug durch die vielseitigen künstlerischen Arbeiten, die auf Schnitzlers Fräulein Else zurückgehen, macht nicht nur Lust aufs Wiederlesen der Novelle, sondern auch auf ihre Bearbeitungen und jene Projekte, die noch kommen mögen. Stellenweise fesseln Tackes Ausführungen wie ein guter Roman, der auch zu denken gibt. Denn so viel steht fest: in Zeiten, in denen für weibliche Nacktheit nach wie vor strenge gesellschaftliche Rahmenbedingungen herrschen, ist die Novelle so aktuell wie eh und je. Das zeigt nicht zuletzt auch die Femen-Bewegung, in der, so die Dokumentarfilmerin Kitty Green, über einige Jahre hinweg ein Mann eine fragwürdige Machtposition eingenommen haben soll. Dabei ist es jedoch weniger seine nach wie vor nicht eindeutig geklärte Rolle, die zu denken geben sollte, sondern der Umstand, dass eines nach wie vor üblich ist: Der Mann, der als Gatekeeper für die öffentliche Darstellung weiblicher Körper fungiert. Die Arbeit Tackes schafft somit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Schnitzler-Rezeption, sondern hat auch gesellschaftspolitische Relevanz.

Arthur Schnitzlers Fräulein Else trägt nicht nur die Diskurse, die um sie herum gesponnen werden, die Fragmentierungen, Neuanordnungen und hoch reflexiven Bearbeitungen, sondern verdichtet sich dadurch noch weiter. Das aufzuzeigen ist Alexandra Tacke sehr gut gelungen.

1 Arthur Schnitzler: Fräulein Else. In: Ders.: Fräulein Else und andere Erzählungen. Frankfurt am Main: S. Fischer 201120, S. 41-160, hier: S. 157.

Alexandra Tacke Schnitzler’s „Fräulein Else“ und die nackte Wahrheit
Novelle, Verfilmungen und Bearbeitungen.
Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2017 (= Literatur-Kultur-Geschlecht, Band 67).
238 S.; brosch.; m. s/w-Abb.
ISBN 978-3-412-22497-4.

Rezension vom 26.01.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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