#Sachbuch

Flucht in der Literatur - Flucht in die Literatur

Luigi Reitani

// Rezension von Anna Obererlacher

Kaum ein Thema hat den öffentlichen, gesellschaftspolitischen Diskurs in den vergangenen Jahren so dominiert wie die Flüchtlingsbewegung. Flucht bewegt Menschen. Buchstäblich und im übertragenen Sinn. Die Debatte über Obergrenzen, Grenzzäune, die Legitimität von Fluchtursachen oder finanzielle Unterstützung ist emotionsgeladen und von Verunsicherung geprägt. Wahlen werden über die Frage entschieden, ob es einer Gesellschaft zumutbar ist, sich mit dem Leid von Schutzsuchenden auseinanderzusetzen. „Wir zuerst“ heißt es sinngemäß von der einen Seite, dem ein „Wir schaffen das!“ entgegengesetzt wird.

Gesucht sind Perspektiven auf die Thematik, die der Vereinnahmung durch politische Lager entgegenstehen, die auf den Spuren abendländischer Techniken des Umgangs mit Flucht wandeln. Abstrakte Ideen, die nicht dogmatisch sind, die immer nur Versuche und Schlaglichter sein können, weil die Tragödien, die mit Flucht verbunden sind, nach dem Fall des Vorhangs nicht als Schauspiele erkennbar werden, sondern sich in eine Gesellschaft nachhaltig einschreiben. Wie sehr die Literaturgeschichte von Flucht geprägt ist, als Motiv oder als Zielort der Fluchtbewegung, davon erzählt Luigi Reitani in Flucht in der Literatur – Flucht in die Literatur. Der Text basiert auf einer Vorlesung aus dem März 2016, die Reitani im Rahmen der Reihe „Wiener Vorlesungen im Rathaus“ gehalten hat. In Buchform repräsentiert er den 184. Band der bei Picus verlegten Vorlesungen und den Auftakt der Wendelin-Schmidt-Dengler-Vorlesungen, mit denen dem hochgeschätzten und unerwartet verstorbenen Wiener Germanisten gedacht wird. Den Text an diese Stelle zu setzen, die den Beginn dieser neuen Reihe markiert, unterstreicht, dass in Zeiten wie diesen eben gerade auch die Literaturwissenschaft sich nicht in die Hörsäle flüchten, sondern aktiv ihre Überlegungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. Dass das gelingen kann, zeigt Reitanis Beitrag.

In kurzen Kapiteln werden Verarbeitungen von Fluchtthematiken in über 2000 Jahren europäischer Literatur aufgezeigt. Der Text setzt ein mit Vergils Bukolika, deren erste Ekloge die Geschichte der zwei Hirten Meliboeus und Tityrus erzählt. Ersterer ist physisch auf der Flucht, der zweite kann sich dank seines ungefährdeten Lebens der Ästhetik hingeben, einer Flucht in die schönen Künste. Reitani schließt mit einem Gedicht von Peter Waterhouse, das mit der versehrten Heimkehr endet: „Ich kehre verwundet vom Schlachtfeld zurück“ (S. 80). Die dazwischenliegenden Etappen sind sowohl religiöser als auch profaner Natur. Freilich kommt die Flucht in der Literatur nicht ohne die Bibel aus, genauer, etwa die Flucht der Israeliten aus Ägypten oder die Vertreibung Adams und Evas aus dem Garten Eden. Letztere erklärt gewissermaßen die Menschheit kollektiv zu Migranten, die in ihrer Sehnsucht nach der Rückkehr in das Herkunftsland das weltliche Dasein stets nur als Transitzustand verstehen können. Aber auch der römische Held Aeneas ist ein Flüchtling, bevor er zum Urvater der Ewigen Stadt werden kann und Reitani lässt auch den im Exil schreibenden und dabei die italienische Sprache institutionalisierenden Dante sprechen, der wiederum auf Vergils Spuren wandelt und den Mythos von Meloboeus und Tityrus weiterträgt, verändert und neu konnotiert. Selbst das erotische Begehren, das durch das Flüchten des einen vor dem anderen erst beflügelt wird, findet Platz in Reitanis Betrachtungen. Ebenso wie der Abend als Ort, an dem die Flucht zum Gegenstand reflexiver Betrachtungen werden kann, an dem die vom Überlebenskampf des Tages geprägten Erlebnisse in Geschichten übergehen. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Werk des deutschen Dichters Friedrich Hölderlin, der seiner sozialen Isolation literarisch und durch räumliche Distanzierung von seinem Umfeld begegnet. Und er ist damit nicht allein, denn „[m]it der Moderne ist das Exil die geistige Situation des Dichters geworden, der sich von der Gesellschaft ausgestoßen fühlt und in der Literatur sein Asyl sucht“ (S. 39). Gleichzeitig schreibt die Literatur des 19. Jahrhunderts, mit nachhaltigen Auswirkungen, große Geschichten des Ausbruchs, in denen die Flucht als Akt der Willenskraft und der Vitalität von rebellischen Helden positiv konnotiert wird. Dabei führen Völkerbewegungen gleichzeitig zu chancenreichen -begegnungen; auch Goethe floh bekanntlich unter dem Leitspruch „Auch ich in Arcadien!“ (S. 53) vom Weimarer Hof, mit dem Anspruch, in Italien die Antike aufzuspüren.

Reitani unterstreicht einmal mehr, dass es aber vor allem das 20. Jahrhundert ist, dem Flucht zentral in die Identität eingeschrieben ist. Zwei Weltkriege und der Holocaust haben tiefe Wunden hinterlassen. Literarische Verarbeitungsformen dieser unaussprechlichen Katastrophen sind zu einem zentralen Bestandteil der europäischen Nachkriegsliteratur geworden und manifestieren sich etwa in Werken wie Paul Celans Todesfuge, wobei die Fuge „jene Flucht“ ist, „die das Prinzip der Autonomie der Kunst verteidigt hat, ein raffiniertes ästhetisches Spiel, sinnlich und abstrakt zugleich“ (S. 69-70).

Dass sich Kunst und Literatur engagieren und zu den gegenwärtigen Ereignissen Stellung beziehen sollen, ist eine Forderung, die, wie auch Reitani anmerkt, nicht neu ist und auf das Spannungsverhältnis zwischen einem heteronormen und autonomen Kunstverständnis verweist. „Jeder literarische Text ist ein Akt des Erinnerns und des Vergessens zugleich, und jede Flucht in die Literatur setzt eine Welt voraus, in der Menschen auf der Flucht sind“ (S. 78), formuliert Reitani treffend. So stellt sich nicht die Frage nach der Aufgabe von Literatur, denn sie wird immer mit Möglichkeiten hantieren, auch wenn sie diese selbst erst hervorruft. Es sind die Auslegenden, die Collagen schaffenden, wie Reitani einer ist, die Zusammenhänge erst aufzeigen und fokussiert vermitteln.

Was Reitani mit seiner Darstellung gelingt, ist ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Grenze, die heute oft leichtfertig gezogen wird, „zwischen Zwang und Willen“ (S. 57) oder zwischen wirtschaftlicher Migration und Flucht vor Krieg bzw. politischer Repression nicht eindeutig bestimmbar ist, es nie war. Mit der Bearbeitung dieser Thematik trifft Reitani nicht nur einen sensiblen Nerv der Zeit, er führt auch seine überfordernde Komplexität vor, die zu Vereinfachungen verleitet. Der Text changiert wohltuend zwischen wissenschaftlich fundiert und zugleich nahbar und kurzweilig. Dem Rahmen dieser Publikation ist das angemessen, verstehen sich die Wiener Vorlesungen im Rathaus, sicher auch im Sinne Wendelin Schmidt-Denglers, doch als „Schnittstelle zwischen der Forschung und einer an Wissenschaft interessierten Öffentlichkeit“ (S. 9). Die Ernsthaftigkeit des Unterfangens kann indes schon an der Gestaltung des Bandes abgelesen werden, der neben dem liebevoll aufbereiteten Text auch Platz für Details wie Abbildungen und ein Namensverzeichnis bietet.

Der Text regt zum Nachdenken, Weiterlesen und Tiefergraben ein, indem er nicht versucht, der Thematik ihre Vielschichtigkeit abzusprechen, sondern eben genau darauf hinweist. Paradoxerweise ist diese Erkenntnis gerade eine, die beruhigt, denn sie basiert auf der Gewissheit, dass nicht ein Einzelner alles verstehen oder lösen können muss. Das vorliegende Narrativ folgt keiner eindeutigen Richtung und ist noch lange nicht abgeschlossen. Es speist sich aus den Geschichten, die an den Wegrändern erzählt werden.

Luigi Reitani Flucht in der Literatur – Flucht in die Literatur
Wiener Vorlesungen, Bd. 184.
Wien: Picus, 2016.
85 S.; geb.; m. s/w-Abb.
ISBN 978-3-7117-3004-6.

Rezension vom 27.03.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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