#Sachbuch

Marie von Ebner-Eschenbach / Josephine von Knorr. Briefwechsel 1851-1908

Ulrike Tanzer, Irene Fußl, Lina Maria Zangerl, Gabriele Radecke (Hg.)

// Rezension von Karin S. Wozonig

Die Herausgeberinnen dieser Briefe haben einen Schatz gehoben. Der Dienst, der mit dieser Publikation der Ebner-Eschenbach-Forschung erwiesen wird, ist unschätzbar. Allein die Trankriptionsleistung bei über 800 Schriftstücken ist enorm. Die Briefe Ebner-Eschenbachs waren bislang in privatem Besitz, der Fund ist Ulrike Tanzer zu verdanken, der Umstand, dass er zugänglich gemacht werden konnte, mit den Gegenbriefen und unter chronologischer Einfügung erschlossener Briefe, ist das Ergebnis eines umfangreichen Projekts unter ihrer Leitung.

Der Briefwechsel beleuchtet nicht nur die sehr unterschiedlichen Schreibbedingungen zweier Autorinnen und die Entstehung einiger wichtiger Werke der österreichischen Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts, sondern er gestattet auch einen Blick auf familiäre Verflechtungen und auf die Lebensbedingungen gebildeter Frauen im neunzehnten Jahrhundert. Vor allem ihre Chancen und die Schwierigkeiten, die sich aus der Adelserziehung und aus der Geschlechtertrennung ergeben, werden deutlich, aber auch Geld ist ein Thema in diesen privaten Briefen. Wer am Leben der bedeutendsten österreichischen Autorin des neunzehnten Jahrhunderts interessiert ist, sollte diese Briefe kennen. Denn mit ihnen lässt sich deutlich nachvollziehen, wie Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) von ihren lyrischen und dramatischen Anfängen zur Vollausbildung ihres erzählerischen Talents kommt. Hier schreibt eine ambitionierte, intelligente Frau, die am Beginn ihres eigenen literarischen Wegs ihre Freundin, die Lyrikerin Josephine von Knorr (1827-1908) bewundert, ja verehrt, und die im Laufe der Zeit durch autodidaktisches Bemühen nicht nur zu einer großen Schriftstellerin, sondern auch zu einer kompetenten, wohlwollenden Kritikerin wird (die bei Knorr allerdings nicht so richtig Gehör findet). Während Ebner-Eschenbach nach Jahren der vergeblichen dramatischen Versuche zu ihrer Form, der Erzählung, findet, bleibt Knorr in einer frühen Poetik stecken, der nach und nach das Publikum abhanden kommt. Ebner-Eschenbach liefert trotz aufreibender familiärer Verpflichtungen eine erzählerische Glanzleistung nach der anderen, während sich die alleinstehende und bis zum Börsenkrach 1873 auch finanziell unabhängige Knorr mühsam Gedichte abringt, die in ihrer poetischen Qualität in der vorsichtigen Bewertung Ebner-Eschenbachs bald nicht mehr an ihre früheren heranreichen. Die zunehmende Spannung zwischen den beiden Freundinnen wird beim Lesen der Briefe spürbar. Und das, obwohl es offensichtlich Verluste in der Korrespondenz gegeben hat und vor allem in späteren Jahren wochen- und monatelange Korrespondenzpausen eintreten. Die Verbindung der frühen 1850er Jahre wird immer wieder durch Ebner-Eschenbachs Krankheit gelockert (sie wird von einer sehr starken Migräne geplagt). Und so eng die Brieffreundschaft und wohl auch der persönliche Kontakt im Winter in Wien ist: Auf Knorrs Schloss Stiebar begibt sich Ebner-Eschenbach trotz beinahe jährlich sich wiederholender sicherer Zusage jahrelang nicht. Die Herausgeberinnen führen die Absage aus dem Jahr 1852, einer der ersten in einer langen Reihe, auf Ebner-Eschenbachs Abhängigkeit und familiäre Verpflichtungen zurück (Kommentar, 24). Bei den Zu- und auf den Fuß folgenden Absagebriefen kann man sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass Ebner-Eschenbach es schlicht nicht reizvoll findet, Zeit in dem düsteren Schloss in Gresten zu verbringen. Im Jahr 1868 rafft sie sich erstmals zur Reise auf und bleibt dann ganze zwei Tage. (313)

Anfangs schicken einander Ebner-Eschenbach und Knorr Abschriften ihrer literarischen Arbeiten und kommentieren sie ausführlich, wobei Knorr deutlich mehr Autorität zeigt, hat sie doch schon erfolgreich veröffentlicht. Sie fällt auch ein positives Urteil über Ebner-Eschenbachs ersten Romanversuch mit dem Titel „Die große Welt“ und erkennt das erzählerische Talent der Freundin. (36) Aus Ebner-Eschenbachs Reaktion wird aber deutlich, dass für sie die Prosa keine ernstzunehmende literarische Herausforderung darstellt. Was ihr vorschwebt, ist zum Beispiel, die römische Geschichte in ein Versepos zu bringen oder das Burgtheater mit historischen Stoffen zu erobern. Als ihre bühnenerfahrene Freundin Luise Neumann ihr sagt, ihr Lustspiel „Die Schauspielerin“ sei für die Vorstadtbühne geeignet, ist Ebner-Eschenbach entsprechend enttäuscht. (88) Erst später schreibt sie: „Mit dem Romane wirst Du zufrieden sein, ich bin’s selber es geht mir mit einer Leichtigkeit, die ich sonst bei keiner Arbeit hatte […] Ihr habt doch den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn Ihr sagt, daß ich zur Prosa mehr Geschicke habe als zur Poesie, namentlich die Lyrik ist mir nicht hold.“ (149) Im Oktober 1858 kündigt Ebner-Eschenbach ein „kleines ‚literarisches Opus'“ an (171). Sie war im Sommer in Franzensbad und Knorr reagiert mit: „Ich ahne Badeleben!“ (173). „Aus Franzensbad“ ist in den Worten der Ebner-Eschenbach-Biografin Daniela Strigl ein typisches Erstlingswerk, „ein freches, aufmüpfiges, witziges, ein bisschen großmäuliges und exaltiertes Buch“ (Daniela Strigl: „Berühmtsein ist nichts“, Residenz 2016, 112). Ebner-Eschenbach lässt „Aus Franzensbad“ auf eigene Kosten anonym drucken, hofft auf reißenden Absatz, der zu einer zweiten, verbesserten Auflage führt (174), dazu kommt es aber nicht. Ebner-Eschenbachs persönliches Zeitschriftenprojekt „Die Parzen“, das sie über einige Monate verfolgt, gibt Textproben aller Gattungen, die im Freundes- und Familienkreis zirkulieren. Auch hier gibt es vor allem Lob für das Romanfragment „Die große Welt“.

Ebner-Eschenbachs Brief vom 20. Juni 1853 zeigt eindrücklich die Wichtigkeit, die sie ihrem Schreiben und dem Veröffentlichen beimisst: „Mein ganzes Dichten und Trachten meine ganzes [sic] Freude und mein ganzes Glück vereint sich nur in einem einzigen Punkte, der Erwartungen die ich auf mein Talent setze. Werden die getäuscht, so hab‘ ich nichts auf der Erde das ich aus dem Tiefsten meines Herzens, glühend und ausschließend lieben kann.“ (52) Als sie eine Gedichtsammlung zusammengestellt hat, schreibt sie an Knorr: „Nur das weiß ich – daß ich dieses Büchlein hinauswerfen muß in die Welt – daß ich diese Frage an das Publicum stellen muß.“ (91). Später, sie ist mittlerweile zur Prosa übergegangen, schreibt Ebner-Eschenbach vom „Fieber der letzten Kapitel – ein ganz eigenes, das Du gewiß auch kennst – ein böses quälendes Fieber.“ (425) Man kann allerdings vermuten, dass Knorr dieses Fieber nicht gekannt hat. In einer Phase, in der sie, statt zu schreiben, die Kinder ihres Bruders betreut, empört sich Ebner-Eschenbach (in ihren Maßen) über Knorr, die, ohne solche familiäre Verpflichtungen zu haben, keine Zeit zum Dichten findet.

Mit der erwähnten ersten Gedichtsammlung, die sie als Manuskript verschickt, holt sich Ebner-Eschenbach eine vernichtende Kritik der Töchter Bettina von Arnims (97f.) und eine lobende von Karl August Varnhagen von Ense (103-105) ab. Die erste Reaktion bringt Ebner-Eschenbach dazu, das Schreiben vorübergehend aufgeben zu wollen, ist in ihren Augen aber auch die „erste wirklich derbe Kriegserklärung“ (100). Die zweite euphorisiert die Dichterin geradezu, sie will die Gedichte aber nicht mehr drucken, sondern „ein paar Jahre“ in ihrer Lade liegen lassen. (104) Das ist im Juni 1854, im selben Jahr erscheinen vierzehn kleinere, von Heine beeinflusste Gedichte unter dem Pseudonym Emaéri in der österreichischen Zeitschrift „Der Salon“ (vgl. Strigl, 98); wie überhaupt das Leben für Ebner-Eschenbach in Bezug auf ihre literarische Arbeit jahrzehntelang eine Hochschaubahn ist. Anders als Knorr, die sich selbst sinngemäß als literarisch ehrgeizlos (122f.) bezeichnet und die Ebner-Eschenbach rät, die Poesie nicht so wichtig zu nehmen (100), ist Ebner-Eschenbach immer nur kurzfristig in ihrem Tun erschüttert. „ich glaube nicht mehr an mein Glück obwol ich vielleicht mehr als je an mein Talent glaube. – Ist’s die Idée fixe einer Kranken? Mir gleich!“, schreibt sie 1856 (152). So schickt sie in diesem Jahr ihr Gedicht „Stauffenberg“ an den Verlag Cotta und wartet auf eine Antwort. (Die Vorlage zu dem Gedicht stammt von Achim von Arnim, Ebner-Eschenbach ändert aber den Schluss und schreibt an Knorr: „ich dachte es ist doch besser er stürzt sich in den Rhein als er fällt mir todt unter den Tisch“ [125]). Ihre Verunsicherung nach dem Abschicken des Manuskripts ist mit Händen zu greifen und ist deshalb groß, weil ihr Deutschlehrer und literarischer Berater in der Zeit, Carl Böhm, mit dem Gedicht nicht einverstanden war. Einerseits scheint Ebner-Eschenbach überzeugt zu sein, dass Cotta das Manuskript ablehnen wird, andererseits arbeitet sie daran und macht einen Zeitplan für die Korrekturen der Druckbögen (128f.). Als tatsächlich ein abschlägiger Bescheid von Cotta kommt, hakt Ebner-Eschenbach nach und will wissen, was mit ihrem Gedicht nicht stimmt. (133f.) Sie glaubt an ihre Arbeit und an ihr Talent, auch wenn sie zwischendurch immer wieder zweifelt. Sie wartet auf die Anerkennung ihrer dramatischen Leistungen, stellt dabei aber fest, dass „rings die Mittelmässigkeit florirt“ (216), während ihr an Schiller geschultes historisches Drama abgelehnt wird.

Ebner-Eschenbach verhält sich bei ihrer Kritik der Gedichte Knorrs anfangs defensiv und überhöht die Leistungen ihrer Freundin. So schreibt sie am 20. 12. 1852: „Du mußt es schon sehr gut wissen, daß Deine Leistungen über meiner Kritik stehen“ (31f.) Ebner-Eschenbachs Bedürfnis nach kritischer Rückmeldung von Knorr und anderen Beratern und die Bereitschaft, Verbesserungsvorschläge zu berücksichtigen, Texte auch vollständig umzuarbeiten, sprechen aus vielen ihrer Briefe. Ebner-Eschenbach zeigt sich aber auch als eifrige Leserin, die mit Knorr Bücher austauscht, z.B. die Gedichte Annette von Droste-Hülshoffs (89), und Lektüretipps gibt. Sie liest Jean Paul (143), studiert „sehr eifrig“ Schlegels Dramaturgische Vorlesungen (115), liest und lernt. 1859 ist sie so weit, Knorr vorsichtig, aber mit Selbstvertrauen Hilfe bei der Umarbeitung von Gedichten anzubieten: „Ich hab in den 2 letzten Jahren manches studiert was man zur ‚Composition‘ brauchen kann, vielleicht kannst Du meine kleinen Kenntnisse in der Sache benützen.“ (192) Vier Jahre später kritisiert Ebner-Eschenbach einige Gedichte Knorrs fundiert und kompetent (250) und löst damit augenscheinlich (der Antwortbrief Knorrs ist nicht erhalten) eine Krise aus. Sie reicht aufbauende Bemerkungen und positive Urteile von anderer Seite nach (251).

Der Austausch über die eigene literarische Arbeit und über Bücher anderer wird im Laufe der Zeit weniger, die gegenseitigen Korrekturen verebben in den Sechzigerjahren, Lektüretipps und -berichte werden seltener. Während das Ringen Ebner-Eschenbachs um dramatische Anerkennung in den 1850er und 1860er Jahren ein wichtiger Gegenstand des Briefwechsels ist, findet ihre literarische Karriere, die nach der ersten Sammlung von Erzählungen (1875) rapide Fahrt aufnimmt, unter Ausschluss Knorrs statt. Ob das ein Resultat der Einsicht Ebner-Eschenbachs ist, dass Knorr und Böhm sie nicht gut beraten haben, und sie sich lieber auf andere Stimmen wie die der Dramatiker Joseph Weil oder Friedrich Halm verlässt, oder ob sie der weniger erfolgreichen Freundin aus Taktgefühl ihre eigenen Erfolge verhehlt, lässt sich nicht sicher sagen. Während sich Ebner-Eschenbach von Böhm und Knorr als beratenden Instanzen emanzipiert – auffallend ist ihr Erfolg mit dem Drama „Die Veilchen“, in das die beiden nicht lenkend eingegriffen haben (231f., 238) –, kommt Knorr ohne die motivierende Anleitung der Freundin nicht so gut zurecht. Als Knorr eigene Gedichte korrigiert, schreibt sie „ich würde dazu jemand brauchen, der mich mahnt und aufmerksam macht“ (241). Ab 1869 konnte Ebner-Eschenbach auf den literarischen und seelischen Beistand Ida Fleischls zählen, die ihr unter anderem von der Veröffentlichung der Dramen abrät und sie darin bestärkt, sich der Prosa zu widmen. (341f.) 1880 schreibt Ebner-Eschenbach recht lapidar an Knorr: „In der ‚Rundschau‘ erscheint am 1t März die erste Hälfte einer Erzählung von mir. Ich melde es gehorsamst.“ (443). Immerhin handelt es sich bei der Aufnahme der Erzählung „Lotti, die Uhrmacherin“ in die renommierte Zeitschrift um ihren literarischen Durchbruch und, wie Ebner-Eschenbach an den Herausgeber Julius Rodenberg schreibt, um die Erfüllung ihrer „kühnsten und ehrgeizigsten Wünsche“ (zitiert bei Strigl, 243). Es entsteht der Eindruck, dass Ebner-Eschenbach die erfolglose Freundin zu schonen versucht. Der Briefwechsel belegt die emotionale Intelligenz Ebner-Eschenbachs, die in literarischer Bearbeitung in ihren Erzählungen und Aphorismen steckt.

Der Brief Ebner-Eschenbachs vom 2. Juni 1860 ist biografisch interessant. Sie schreibt: „Diese Tage haben Stürme mitgebracht die meine ganze Zukunft, alle meine Verhältnisse bedrohen, u aus denen ich, zu völliger Ruhe noch nicht gelangt.“ Sie schreibt von „Gemütserschütterungen“ und davon, dass „der ganze verflossene Winter […] die Blüten vorbereitet“ hat, die „jetzt auf mich niederregnen“ und gesteht, die unverheiratete Freundin zu beneiden: „Wenn ich mich an Deine Stelle denke, so mein‘ ich es müsse etwas Beseligendes darin liegen, so frank u. frei u pflichtenlos sich fühlen – nichts über sich als den Herrn den uns unser eig’ner Wille gesetzt – u zu dieser Freiheit gelangt zu sein, durch die blosse Gunst des Schicksals, ohne verletzte Pflicht, ohne gebrochnen Schwur.“ (199) Dass dieser ungewöhnlich emotionale Brief im Stellenkommentar als Ausdruck „familiäre[r] Zerwürfnisse wegen MvEEs schriftstellerischen Ambitionen“, konkret wegen der Entdeckung ihrer Autorschaft von „Aus Franzensbad“, interpretiert wird (Komm., 162), kann wohl nur daran liegen, dass die Herausgeberinnen sich bei Ebner-Eschenbach keine amourösen Verwicklungen vorstellen können. Allerdings sind schon bei der ersten Erwähnung von „Aus Franzensbad“ vier Personen eingeweiht. In den engen, wahlweise durch Verwandtschaft oder durch gemeinsame literarische Interessen verbundenen Zirkeln, in denen sich Ebner-Eschenbach und Knorr zu der Zeit bewegen, bedeuten vier Mitwisser, dass die Autorschaft, wenn nicht allgemein bekannt, so doch leicht in Erfahrung zu bringen war. Eine solche Reaktion Ebner-Eschenbachs wegen eines gelüfteten Inkognitos wäre denn doch überzogen. Viele der interessantesten Briefstellen aus der Korrespondenz finden sich auch in der Ebner-Eschenbach-Biografie Daniela Strigls. Deren Darstellung der frühen Schreibjahre Ebner-Eschenbachs verdankt sich der Großzügigkeit Ulrike Tanzers, die der Biografin die Transkriptionen der Briefe zur Verfügung gestellt hat. Auch der zitierte Brief, in dem es um die „Gemütserschütterungen“ Ebner-Eschenbachs geht, wird in der Biografie von Strigl unter Berücksichtigung der in dieser Zeit entstandenen Werke plausibel kontextualisiert, ohne dass dabei der Bogen der biografischen Interpretation überspannt würde.

Eine kritische Ausgabe ist ein Bibliotheksbuch, zumal dann, wenn sie 299 Euro kostet wie im vorliegenden Fall. Und als solches hat sie Anforderungen zu genügen: Sie muss zuverlässig sein (so fehlerfrei wie möglich), sie muss erschöpfend sein, darf sich aber gleichzeitig an ein Fachpublikum richten (das bedeutet, dass vertiefende Informationen geliefert werden müssen, Oberflächliches darf als bekannt vorausgesetzt werden) und sie muss – mir persönlich am wichtigsten – der interessierten Literaturwissenschaftlerin die Arbeit erleichtern. Die vorliegende Ausgabe wird diesen Anforderungen leider nicht durchwegs gerecht. Im Folgenden sollen exemplarisch ein paar Mängel des Begleitbandes, bestehend aus Einleitung, Sachkommentar, Registern und Stammbäumen, aufgezeigt werden.

Die „Einführung“ ist nicht auf dem neuesten Stand. Verwendet wird für die biografische Darstellung die fast hundert Jahre alte Biografie von Anton Bettelheim statt der Anfang 2016 erschienenen von Daniela Strigl, in die viele neue Erkenntnisse, vor allem aus den Jahren 1851 bis 1861, aus denen es keine Tagebücher Ebner-Eschenbachs gibt, einfließen konnten, da die Biografin die Korrespondenz vor der Publikation der kritischen Ausgabe einsehen konnte. Umso erstaunlicher ist es, dass für die Einleitung nichts und für den ganzen Kommentarband nur der Stammbaum Ebner-Eschenbachs aus der Biografie verwendet wurde. Die Einführung ist wohl aus einzelnen, zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässen verfassten Texten zusammengestellt. Die Herausgeberinnen haben den Text nicht aktualisiert, die sechs Einzelteile der Einführung passen nicht fugenlos zusammen. Den Auftakt macht eine Kürzestdarstellung des Kontexts der Briefe, dann folgt eine Biografie von Josephine von Knorr, Teil III widmet sich der frühen Schreibphase Marie von Ebner-Eschenbachs, Teil IV dem sozialen Netzwerk der beiden Korrespondentinnen, Teil V behandelt die Dramen Marie von Ebner-Eschenbachs und stellt gleichzeitig die Berater Josephine von Knorrs vor, der sechste und letzte Teil widmet sich dem Konflikt zwischen Ebner-Eschenbach und Knorr in den letzten Jahren.

Die Ausführungen zur Edition sind detailliert, die Umgangsweise mit den Quellen und die Anlage des kritischen Apparats sind gut nachvollziehbar. Auch das Materielle der Korrespondenzstücke wird angemessen berücksichtigt. Wer Quellen mag, hat viel Freude an den genau dokumentierten Textverlusten durch ausgeschnittene Briefmarken, an den „umschriebenen Rändern“ und an einigen Abbildungen. Der Sachkommentar hat allerdings so seine Eigentümlichkeiten. Einerseits gibt es Erklärungen des Selbstverständlichen und von Dingen, die zu kennen und zu verstehen für ein Fachpublikum selbstverständlich sind. Ja, „Begeisterung“ hat etwas mit „Geist“ zu tun, das gehört nicht in einen Kommentar, das hat eher die Anmutung einer Proseminarausführung (Komm., 16). Und wenn Knorrs Bemerkung, ihr Landsitz Gresten sei „kein Land wo ‚im dunkeln Laub die Goldorangen blühn'“, kommentiert wird mit: „Anspielung auf Goethes Gedicht […], das Mignon, einer Figur aus seinem Roman ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ (1795/96), in dem Mund gelegt wird“ (Komm. 17f.), drängt sich der Gedanke auf, dass diese Ausgabe in Teilen aus editorischen Gehversuchen germanistischen Nachwuchses besteht, und nicht alle davon sind geglückt. Neben den wenigen Beispielen der Übererklärung gibt es aber viele Stellen, die unterbelichtet bleiben. Das ist vor allem bei Lektürenachweisen, die für die literarische Arbeit der beiden Briefeschreiberinnen interessant und wichtig sind, schade. Nachgerade ärgerlich ist es, dass ein 1851 von Ebner-Eschenbach im Brief erwähntes und von ihr an Knorr geschicktes Buch mit dem Titel „Der Pfaff von Kahlenberg“ zu einer nicht identifizierbaren Ausgabe eines abseitigen „Schwankbuchs“ von 1473 erklärt wird (Komm., 4) und der Hinweis auf das naheliegende, 1850 erschienene Buch gleichen Titels des berühmten Vormärzdichters Anastasius Grün fehlt.

In ihrem Brief vom 23. 4. 1856 schreibt Ebner-Eschenbach über eine lyrische „Erwiderung“ Knorrs „an Brunner“ und dessen „niedriges Gebelle“ und von der „elenden u. gemeinen“ Natur, die sich „in den Keilschriften so grauslich ausbreitet“. (140) Während der Kommentar „Brunner“ korrekt als Sebastian Brunner, den antisemitischen Herausgeber der „Wiener Kirchenzeitung“, identifiziert, wird „Keilschriften“ mit „vermutlich Streitschriften“ kommentiert (Komm., 116). „Keilschrift“ ist der Titel einer Gedichtsammlung Brunners, die 1856 erschienen ist und unter anderem Angriffe auf Heinrich Heine, ein literarisches Vorbild Ebner-Eschenbachs, enthält. (Das ist übrigens eine Information, die man bei Wikipedia findet.)

Aus einem Brief von Knorr: „Minny Wickenburg […] interessirt sich für Stahrs neue Gedichte.“ (330) Der Kommentar löst „Stahrs“ auf als: „Fanny Lewald Stahr“ (Komm., 265). Fanny Lewald hat nicht unter dem Namen ihres zweiten Mannes geschrieben und vor allem keine Gedichte. Der nächste Satz im Brief lautet: „Ich wüßte gar nicht daß Fanny Lewald eine so gefeierte Herzenskönigin sei!“ Die Gedichte, auf die sich Knorr bezieht, stammen von Adolf Stahr. Sie sind unter dem Titel „Ein Stück Leben“ erschienen, die meisten davon handeln von Fanny Lewald und von der Beziehung der beiden.

Zum Brief Nr. 44 vom 30. Juni 1853, Knorr an Ebner-Eschenbach (53-55), vermuten die Herausgeberinnen eine Beilage, die im Brief nicht erwähnt wird. Es handelt sich um einen Zeitungsartikel über russische Literatur, gezeichnet „B. P.“, was im Kommentar korrekt als „Betty Paoli“ aufgelöst wird. Im Antwortbrief Nr. 45 schreibt Ebner-Eschenbach: „Die russische Literatur kommt jetzt wie es scheint in Schwung. Betty Paoli hat einen sehr gut geschriebenen Artikel darüber in den Lloyd einrücken lassen. Hast Du die von ihr übersetzte Novelle im Feuilleton derselben Zeitung gelesen? Sie ist sehr spannend – Ich erwarte mit großer Spannung die letzten Nummern.“ (56) Nun ordnen die Herausgeberinnen nicht nur den Zeitungsartikel als Beilage dem falschen Brief zu (dem von Knorr, obwohl der Artikel im Antwortbrief von Ebner-Eschenbach zum ersten Mal erwähnt wird), sondern der Kommentar zu der zitierten Stelle im Brief von Ebner-Eschenbach lautet: „Vermutlich handelt es sich hierbei [bei dem Artikel] um die anonym verfasste Rezension […] Illustrirtes Familienbuch zur Unterhaltung 1852“ (Komm., 49), ein völlig rätselhafter Fehler. Immerhin haben die Herausgeberinnen den Zeitungsartikel in der Hand, auf den sich Ebner-Eschenbach bezieht, die Autorin (Betty Paoli) und der Publikationsort („Lloyd“) werden im Brief genannt, und sie hätten im „Lloyd“ nicht weit zurückblättern müssen: Der Artikel von Paoli wurde im Feuilleton am 28. und 29. Juni 1853 gedruckt, der Brief Ebner-Eschenbachs ist mit 12. Juli 1853 datiert. Implikationen aufzulösen ist eine editorische Kunst, aber auch eine Übung der Logik. Nur ein Mangel daran erklärt auch die Auflösung der Abkürzung „c. a d.“ in einem Brief von Knorr, mitten in einem französischen Zitat, dessen Inhalt die Korrektur eines Irrtums ist, statt als „c’est à dire“ als „currente anno domini“ (Komm., 73). Und es geht auch eine witzige Anspielung Ebner-Eschenbachs verloren, die über ihren Vermieter schreibt: „Seine Seele ist schwarz wie seine Stiefelwichse u. muss auch so riechen“ (342). Der ungenannte Hausbesitzer wird von den Herausgeberinnen ausgerechnet als Glasfabrikant identifiziert statt korrekt als Franz Fernolendt, Fabrikant von Schuhpasta (in Daniela Strigls Buch ist das sogenannte Fernolendt-Haus abgebildet).

Ein bizarrer Fehler unterläuft den Herausgeberinnen bei dem Titel eines Epos, an dem Ebner-Eschenbach arbeitet. Sie schreibt: „Böhm hatte ich die Freude zu sehen, und theilte ihn [sic] den Plan – der Segesta – so heißt mein Gedicht mit.“ (25) Knorr bekommt einige Verse zu lesen und schreibt im Antwortbrief, Brief Nr. 25: „Der Nahme Segesta intriguirt mich, ist es ein Epos über Segest, Thusneldens Vater?“ (26) Das kommentieren die Herausgeberinnen mit dem Satz: „Offenbar verwechselte MvEE die Vornamen Thusnelda und Segeste“ (Komm., 27). Abgesehen davon, dass Thusneldas Vater Segestes heißt, Ebner-Eschenbach immer über die Segeste oder Segesta schreibt und es bei dem umfänglichen Austausch über ihren Kampf mit dem Stoff bald klar wird, um welche Figur es sich handelt, verwechselt Ebner-Eschenbach natürlich keine (männlichen oder weiblichen) Vornamen historischer Gestalten, schon gar nicht bei einem Stoff, für dessen Darstellung sie lange um die richtige Form ringt. Ein Leichtes wäre es gewesen, aus den weiteren Briefen zu schließen, dass Segesta eine fiktive Frauenfigur ist, die Ebner-Eschenbach auf den römischen Kaiser Octavian treffen lässt (er bietet ihr die Ehe an, sie begeht Selbstmord), und das an dieser Stelle im Kommentar zu vermerken. Dass diese Figur nicht die gebührende Beachtung erhält und mit dem folgenden laufenden Verweis auf den Kommentar zu Brief 25 auch nie als die, die sie wirklich ist, zu Ehren kommt, ist bedauerlich. Denn ein dem Brief 47 beigelegtes Gedicht, in dem Ebner-Eschenbach um kritische Beurteilung ihres Versepos und gleichzeitig um Nachsicht bittet, enthält an diese Figur angedockt ein ganzes poetisches Programm, Ebner-Eschenbachs sehr konkrete Vorstellung vom (literarischen) Scheitern, und das Gedicht gibt auch die Vorbehalte ihres Ehemanns gegenüber ihrem Schreiben wieder: „Segeste ist kein schwaches Weib,/(Ob Moriz mir verkünde,/Sie sei ein schlechter Zeitvertreib/Und meine größte Sünde –)“. (Komm., 51) Als Knorr „Segeste“ kritisiert, schreibt Ebner-Eschenbach: „Ich sehe vollkommen ein, daß Ihr Recht habt Segesten den Hals zu brechen […]“ (67).

Auch mit anderen Werktiteln Ebner-Eschenbachs gehen die Herausgeberinnen nicht gerade zimperlich um. Da sich viele Stellenkommentare darin erschöpfen, dass die Leserin auf die erste, lückenhafte Erwähnung zurückverwiesen wird, bekommt die großartige Erzählung „Die Freiherrn von Gemperlein“ im ganzen Kommentar nie ihren richtigen Titel. Als Ebner-Eschenbach dieses Projekt zum ersten Mal erwähnt, nennt sie die erst in ihrem Kopf existierende Erzählung „Die Brüder von Gemperlein“. Die Kommentarstelle dazu vermerkt zwar den ersten Publikationsort (die Zeitschrift „Dioskuren“), nicht aber den korrekten Titel (Komm., 338) und verweist von da an bei jeder Erwähnung der Erzählung auf diese erste rudimentäre Stelle zurück.

Je weiter der Briefwechsel fortschreitet, desto lückenhafter wird der Kommentar. Zum Beispiel führt Knorr in einem Brief ihre Lieblingsaphorismen Ebner-Eschenbachs an und zwar als Zahlenangabe der Nummerierung, wie sie von Ebner-Eschenbach für die erste Buchausgabe zusammengestellt wurden: „I. 7. 26. 99. II. 63. III 31. 45. 80. 94.“ (444) Im Kommentar wird das nicht aufgelöst. Im Jahr 1883 schreibt Ebner-Eschenbach: „Nun hatte Monsieur Marchand die außerordentliche Güte die Aphorismen im Temps sehr freundlich zu besprechen, einige davon wunderschön zu übersetzen […].“ (461) Statt der in einer kritischen Ausgabe zu erwartenden Quellenangabe zur genannten Zeitschrift enthält der Stellenkommentar ein Zitat aus dem Tagebuch von Ebner-Eschenbach: „Mr Marchand lobt im ‚Temps‘ die ‚Aphorismen‘.“ (TB III, 17.4.1883, S. 309)“ (Komm., 373).

Große Energie ist aber in die Aufklärung dynastischer Verhältnisse geflossen. Auch die kompliziertesten familiären Verwicklungen finden Berücksichtigung und da sind die Herausgeberinnen auch mit den Briefschreiberinnen streng. Knorr erwähnt die Verlobung einer „Comtesse Stadion, die den älteren Bruder der Gräfinn Auersperg heirathet“ (77). Wir lernen nicht nur, dass es sich dabei um Anna Maria Gräfin von Stadion-Warthausen und Thannhausen handelt, der Kommentar ergänzt auch: „Offenbar zerschlugen sich die Heiratspläne mit Baron Henneberg“ und rügt: „der – hier ist JvK ungenau – nicht der ältere, sondern der jüngere Bruder der Gräfin Auersperg war.“ (64) Wer an den Familienverhältnissen des österreichischen Adels im neunzehnten Jahrhundert interessiert ist, findet in dieser kommentierten Briefausgabe viel Material; bei den literaturgeschichtlichen Fragen hätte noch mehr Sorgfalt nicht geschadet.

Ulrike Tanzer, Irene Fußl, Lina-Maria Zangerl, Gabriele Radecke (Hg.) Marie von Ebner-Eschenbach / Josephine von Knorr. Briefwechsel 1851–1908
Kritische und kommentierte Ausgabe.
Berlin, Boston: De Gruyter, 2016.
1362 S.; geb.
ISBN 978-3-05-005907-5.

Rezension vom 13.05.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.