#Sachbuch

Paperworks

Irmgard M. Wirtz, Magnus Wieland (Hg.)

// Rezension von Martin Sexl

»Die objekthafte Präsenz des Papiers wird im Zuge des material turn auch in den Geisteswissenschaften immer deutlicher erkannt. Sofern Papier in der Literaturwissenschaft überhaupt eine Rolle gespielt hat, dann selten in seiner Materialität, sondern als Symbol oder Metapher in den Texten selbst«, so heißt es in dem den vorliegenden Sammelband einleitenden Beitrag »Paper works!« von Magnus Wieland (S. 29).

Und eben dieser Materialität des Papiers widmet sich der Band aus literaturwissenschaftlicher Sicht, und dabei gibt es genug zu tun, denn »[a]us Papier, Karton oder Pappe ist« – wie es in einem Zitat von Johannes Georg Oligmüller (S. 15f) heißt – »der Bestellzettel, das Taschentuch, die Aktie, die Banderole, die Fahrkarte, die Tüte, das Plakat, die Tortenspritze und der Kaffeefilter, die Tapete, die Gebrauchsanweisung und der Eierkarton, der Aktenordner, die Pralinenschachtel, der Stadtplan, das Apfelsinenpapier, die ›Papiere‹ und der ›Lappen‹, der Persilkarton und der Persilschein, das Kartenspiel und die Landkarte, das Flaschenetikett und das Preisschild, der Totenschein und die Eintrittskarte, der Notizzettel und die Visitenkarte, die Radierung und die Dachpappe, die Versandhülse, die Serviette, der Mundschutz, der Papierdrachen, der Adventskalender, das Isolierpapier, der Bierdeckel, die Hutschachtel – nicht zu vergessen Bücher, Briefe, Zeitungen und Geldscheine«. (Und der Trabant, möchte man noch hinterherrufen.) Und all das kann man auch zerschneiden, bekleben, bemalen, collagieren, montieren, zerknüllen und – vor allem! – beschreiben.

Dass der Sammelband nur eine kleine Auswahl von »Paperworks« vorstellen kann, kann man ihm also ebenso wenig zum Vorwurf machen wie die Tatsache, dass er eine schlüssige Definition des Begriffs schuldig bleibt. Weil es erstens keine schlüssige Definition geben kann, weil es zweitens neben der sehr erhellenden und schon genannten Einleitung von Magnus Wieland (S. 11-40) auch eine ebenso erhellende theoretische Vorbereitung durch Uwe Wirth gibt (»Poetisches Paperwork«, S. 41-63), weil drittens die vorgestellten Beispiele/Phänomene es alle durchwegs wert sind, ans Licht geholt und besprochen zu werden, weil viertens auch die Qualität der Beiträge selbst überzeugt, weil fünftens klar und deutlich herausgearbeitet wird, »wie Papier oft nicht als neutrale Schreibfläche fungiert, sondern bestimmte Interaktionen hervorrufen, stimulieren oder auch behindern kann« (wie es im Klappentext zu lesen steht), und weil es sechstens drei wunderbar unwissenschaftliche Beiträge in diesem Band gibt: ein Beispiel für konkrete Poesie des ›Altmeisters‹ dieser Gattung Eugen Gomringer (S. 123-128), einen eigens für diesen Band angefertigten Collagenzyklus von Birgit Kempker (S. 183-207) und Felix Philipp Ingolds »Schlussbericht aus der Papierwelt« (S. 265-278), der einen guten Einblick in die Praktiken und Arbeitsmethoden eines Schriftstellers bietet.

Zur Orientierung soll aber doch eine Art Arbeitsdefinition – ein wenig simplifizierend und unbeholfen – des Begriffs Paperworks vorangestellt werden: Mit dem Begriff könnte man Papierarbeiten bezeichnen, bei und in denen Schriftsteller*innen (und nicht Vertreter*innen der Bildenden Kunst, auch wenn die Grenze zwischen Bildender Kunst und Literatur oft unklar, schwammig und instabil ist, und dies ganz besonders die in diesem Band untersuchten Phänomene betreffend) Papier so bearbeiten, dass man zwar weiterhin von literarischen Texten oder Schriftphänomenen sprechen kann, dass diese aber auch als Kunstwerke wahrgenommen werden können – oder beides sind: Kunstwerk und Text. Aus diesem Grunde können an Paperworks auch jene Grenzlinien hervorragend thematisiert und befragt werden, die Original von Reproduktion von Kopie unterscheiden, Kopf- bzw. Geistesarbeit von Handarbeit, Lesbarkeit von Bildhaftigkeit von Textualität, Schrift- von Bildzeichen, Lektüre von Betrachtung, Denken von Sinneserfahrung, kognitives Wissen von Körperwissen, Linearität der Wahrnehmung von Wahrnehmung mit einem Blick, Materialität von Form von Inhalt oder Archivier- und Ausstellungswürdiges von Gebrauchsgegenständen etc. Es geht um Fragen der Intermedialitätsforschung, der Editionsphilologie, der Handschriftenkunde und der critique génétique ebenso wie um Fragen – die in diesem Band aber allenfalls am Rande gestellt werden, da er mit einem dezidiert literaturwissenschaftlichen Blick arbeitet –, mit denen sich in der Regel eher die Kunstgeschichte und nicht die Literaturwissenschaft herumzuschlagen hat: Fragen der Restaurierung, Lagerung und Konservierung (denn: »Paper works!«, S. 32), des ökonomischen Werts, der durch Alterung verursachten Probleme (Stichwort: Vergilbung) u.Ä.m.

Der Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die sich dem »reichhaltige[n] Bestand von über 300 Nachlässen und Archiven des Schweizerischen Literaturarchivs« (S. 7) gewidmet hat, und unter den Schweizer Schriftsteller*innen und Künstler*innen gibt es eine ganze Reihe von Paperworkern: Robert Walser (dessen Mikrogrammen sich Wolfram Groddeck widmet, S. 129-145), Ludwig Hohl (sein Grundmanuskript und seine Notizen werden im Text von Bettina Mosca-Rau vorgestellt, S. 167-183), Kuno Raeber (vgl. Walter Morgenthalers Beitrag über dessen Gedichtnachlass, S. 209-225) Erica Pedretti (Regula Bigler, S. 227-243), Matthias Zschokke (Stephan Kammer, S. 245-264), Meret Oppenheim, Friedrich Dürrenmatt und viele andere mehr. Im Buch wird aber auch eine frühe Fassung von Walter Benjamins Kafka-Essay rekonstruiert (Marie Millutat, S. 147-165), eine »Poetik der leeren Seite« entwickelt (Andreas Langenbacher, S. 107-121) oder die »Macht der kleinen Karten« – Visitenkarten, Geschäftskarten, Spielkarten, Karteikarten etc. – als Medium der Stellvertretung analysiert (Markus Krajewski, S. 83-105).

Besonders hervorgehoben werden soll der Beitrag »Aus zweiter Hand. Papier- und Buchstabenkreisläufe in der Art Brut« von Gisela Steinlechner (S. 65-82), denn mit Werken der »Outsider-Kunst« bzw. »Art Brut« vor und nach 1900 (seinerzeit »Kunst der Geisteskranken« genannt) werden nicht nur – wie auch in allen anderen Beiträgen – ästhetisch anspruchsvolle und hochspannende Kunstwerke präsentiert, sondern auch Fragen und Grenzziehungen verhandelt, die ganz allgemein für Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte relevant sind und die Ästhetik schon immer beschäftigt haben: etwa Fragen nach der Bedeutung(slosigkeit) intentionalen Handelns in der Kunst, nach Genie und Wahnsinn, nach Zufall und Ereignis, ars und ingenium, nach der Vergleichbarkeit von avantgardistischen Material- und Formexperimenten mit der Kunst von Menschen mit geistiger Behinderung etc.

Anhand der verblüffenden Parallelen zwischen den »kunstvoll collagierte[n] Briefe[n]« (S. 76) des im Beziehungswahn gefangenen Psychiatrie-Insassen Max Junge von 1918 – der alles »Äußere und Zufällige […] auf die eigene Person« bezog (S. 79) – und der in den 1920er-Jahren entstandenen MERZ-Kunst Kurt Schwitters‘ – der 1923 konstatierte: »Merz bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt« (zit. S. 79) – skizziert Steinlechner eine vorläufige Antwort folgendermaßen: »Ob man es MERZ oder Wahn nennt, ist eine Frage des Standpunktes und der Deutungshoheit, doch in beiden Fällen erweist sich die Collage als ein adäquates Verfahren, um einen solchen nach allen Seiten hin offenen, aus den herkömmlichen Fugen geratenen Beziehungsraum darzustellen und zu kommunizieren« (S. 79).

Steinlechner kann nicht nur aufzeigen, wie stark die Arbeiten der ›Geisteskranken‹ – wie Elise Mahler, Hermann Beehle, Oskar Deitmeyer, Franz Kleber, Frau St., Bernhard Pfitzner oder Max Junge – von der Materialität (z.B. der Qualität und Beschaffenheit des Papiers) der vorgefundenen Materialien abhängig sind, das gilt ja für alle »Paperworks« und wird in den Beitragen auch ausführlich zur Sprache gebracht, sondern auch von den spezifischen kontextuellen Bedingungen, unter denen sie arbeiteten oder vielmehr zu arbeiten gezwungen waren: Einer »der wenigen Verbindungswege zum gesellschaftlichen Leben außerhalb der Institution stellten Zeitungen und Zeitschriften dar, die den Patienten in vielen Anstalten, meist zur Nachnutzung, zur Verfügung standen […] Ein anderer häufig aufgegriffener Verbindungsstrang nach draußen waren Briefe und Traktate, die freilich ihre Adressaten in den meisten Fällen nicht erreichten« (S. 66f.) Bedenkt man zudem noch die Tatsache, dass Papier »in den Anstalten für gewöhnlich Mangelware [war], weshalb die Patienten und Patientinnen für ihre Produktionen oft auf Abfälle und Fundstücke zurückgriffen, um sie für ihre Zwecke umzuwidmen« (S. 67), dann wird deutlich, wie stark und in welcher Weise die Kunstwerke auch von äußeren Entstehungsbedingungen determiniert sind. Hervorgehoben soll dies an dieser Stelle deshalb so deutlich werden, weil auch diese Kontextabhängigkeit im Grunde für jegliche Form von Kunst und Literatur gegeben ist, aber nur selten so klar ins Bewusstsein der Wissenschaften tritt.

Dass die Beiträge des Bandes über so unterschiedliche Phänomene nicht auseinanderfallen, dafür sorgen die beiden hervorragenden ›Vorbereitungstexte‹ von Magnus Wieland (»Paper works! Von der Arbeit mit Papier zur Mitarbeit von Papier. Eine Art Arbeitspapier zur Einleitung«) und von Uwe Wirth (»Poetisches Paperwork. Pfropfung und Collage im Spannungsfeld von Cut and Paste«), die sowohl in historischer wie in theoretischer Hinsicht die Klammer bilden, die es erlaubt, das Verallgemeinerbare aller Phänomene begrifflich zu fassen und ihre Geschichte sowie ihre Einordnung zu verstehen. Uwe Wirth macht dafür vor allem die Metapher der Pfropfung stark (Derrida spielt dabei klarerweise eine prominente Rolle), die dank des umfassenden literaturhistorischen und -theoretischen Wissens des Autors für ganz unterschiedliche Phänomene – er selbst ›testet‹ sie etwa an Herta Müller – fruchtbar gemacht werden kann.

Dieser Band ist sicher kein paperwork, kein Papierkram, und wird es auch nicht werden!

Irmgard M. Wirtz, Magnus Wieland (Hg.) Paperworks
Literarische und kulturelle Praktiken mit Schere, Leim, Papier.
Göttingen: Wallstein/Chronos, 2017.
287 S.; brosch.; m. farb. Abb.
ISBN 978-3-8353-3033-7 (Wallstein).
ISBN 978-3-0340-1391-8 (Chronos).

Rezension vom 24.07.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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