#Sachbuch

Wink und Wandlung

Annette Gerok-Reiter

// Rezension von Richard Reichensperger

Die Literaturwissenschaft funktioniert wie die Börse – sie orientiert sich an augenblicklichen Erfolgsunternehmen, und eine zu einem Zeitpunkt hochstehende Aktie hat bald bloß noch Sammlerwert. Das spricht aber nicht immer gegen die Dichter(innen), sondern oft gegen die modisch ausgerichtete Wissenschaft. Ein Beispiel für eine momentan stark gesunkene Aktie ist das Werk Rainer Maria Rilkes: Vor einigen Jahrzehnten schrieben Hundertschaften über ihn, heute schreibt „man“ über Bernhard, Jelinek oder Handke (dessen „Wende“ am Ende der 70er Jahre ohne Rilke nicht denkbar wäre).

Schon aus diesem Grund hat Annette Gerok-Reiters sorgfältige und geistreiche Studie zu Rilkes Sonetten an Orpheus etwas Unangepaßtes. Spannend aber ist es auch, was sie aus diesem – lange im Schatten der ebenfalls 1922 vollendeten Duineser Elegien stehenden – Gedichtzyklus in genauen Textuntersuchungen herauszuarbeiten vermag – etwa den Zusammenhang von Poetik und sprachlicher Gestaltung; auch denjenigen von modernem Ich-Zerfall und Ästhetik.

1907 besucht Rilke die Pariser Cézanne-Gedächtnisausstellung und erkennt sein eigenes poetisches Programm, nämlich „wie sehr das Malen unter den Farben vor sich geht, wie man sie ganz allein lassen muß, damit sie sich gegenseitig auseinandersetzen. Ihr Verkehr untereinander: das ist die ganze Malerei“ (So in einem Brief an seine Frau Clara). Also: Nicht Inhalt ist wichtig, sondern der Kontakt, die Wechselwirkung zwischen Worten – ein abstraktes, ein eigentlich experimentelles Programm. Genau dies aber hatte für die Dichtung schon Mallarmé gefordert und durchgeführt. Schlagwort: „Symbolismus“.

Annette Gerok-Reiter zeigt, wie Rilkes Gedichtzyklus bis in die Syntax hinein die symbolistische Poetik umsetzt und gleichzeitig aufbricht: Nicht zufällig war die Gestalt des Orpheus – welcher der Sage nach noch als Geköpfter weiterdichtete – schon für Mallarmé die Leitfigur, die er einer mimetischen, auf „Wirklichkeitsschilderung“ ausgerichteten, Dichtung polemisch entgegensetzte. Rilke verknüpft damit aber noch weitere Schichten: Liebe, Erinnerung/Eingedenken, Ich-Verlust, Tod und „Verwandlung“ des Todes in äußerste Sprachbewegung.

Keine „neue Mythologie“ (Friedrich Schlegel) wollte Rilke mit seinem Rückgriff auf Orpheus begründen: Nur transitorisch, als Einzelner und in kurzen sprachlichen „Flashlights“ wird der Mythos in der Moderne zitiert, dabei aber um 180 Grad gedreht: Anders als bei Ovid, steigt Orpheus bei Rilke nicht in die Unterwelt, um den Tod abzuwenden; vielmehr gewinnt er seine dichterische Kraft überhaupt nur und erst aus der Todeserfahrung heraus. Größte Dynamik – zwischen Apollo und Dionysos – zeichnet Rilkes Umdeutung aus, und es ist bestaunenswert, wie Annette Gerok-Reiter diese Dynamik in der sprachlichen Gestaltung der Gedichte herausanalysiert: Vom Aufbrechen der Sonettform über die dynamische und komplizierte Syntax bis in die Neologismen hinein vollzieht Rilke jene „Verwandlung“, die er in Orpheus und im Dichter erkennt: indem ununterbrochen Wörter aus anderen Wörtern heraus generiert werden, wird „Verwandlung“ sofort sprachlich sinnfällig gemacht.

Die Betonung von „Verwandlung“ ist aber zugleich die Thematisierung der Identitätsproblematik der Moderne – so wird Rilke endlich aus dem Salon zurückgeholt in aktuellste Debatten: Sein „Ich“ ist nicht mehr das selbstbewußt-gestaltende aufklärerische Ich; stattdessen ist es – eine Kollektiverfahrung der Moderne! – ausgesetzt disparaten Abhängigkeiten, überwuchert von „Natur“ (Biologie) und Unbewußtem, ausgeliefert an eine heterogene und fremde Wirklichkeit. In Rilkes später Lyrik gelingt es, „Ich“ und „Welt“ auf sehr komplizierte Weise wieder in ein unhierarchisches Gespräch zu bringen. Auch dafür wird Orpheus zum Modell, als ein „Ich“, das die Welt nicht mehr brutal unterwirft, sondern sich selbst durch „hören“ – auch durch das auf das Freudianische „Es“ – herausbildet.

Die Studie der Annette Gerok-Reiter hat zu all ihren Vorzügen auch noch diesen: Sie beweist den Zusammenhang von Rilke und Mallarmé, doch zugleich zeigt sie Rilkes Aufbrechen der symbolistischen Abgeschlossenheit: Identitätssuche – wie sie die Sonette an Orpheus betreiben – ist nicht „l’art pour l’art“, sondern kommt aus Erfahrungen einer immer komplexer werdenden modernen Gegenwart. Dieser flüchtigen, anonymen und zersplitterten Gegenwart stellt Rilke zugleich ein poetisches Programm von „Erinnerung“ entgegen. Dabei feiert er aber nicht regressiv oder sentimentalisch die verlorengegangene „Ganzheit“, sondern versucht gerade die Einzelelemente, die Teile, die abgesplitterten Mosaiksteinchen – von Mythos, Tradition und Gegenwart – möglichst exakt vor Augen zu stellen: Wie Cézanne, der nicht zufällig zum Idol der Kubisten wurde.

Annette Gerok-Reiter Wink und Wandlung. Komposition und Poetik in Rilkes „Sonette an Orpheus“.
Tübingen: Niemeyer, 1996.
319 Seiten, broschiert.
ISBN 3-484-18140-0.

Rezension vom 01.07.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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