#Sachbuch

Utopia, Merlin und das Fremde

Verena Teissl

// Rezension von Martin Sexl

Von vielen LiteraturwissenschaftlerInnen kommt die Forderung – die immer noch wenig beachtet wird -, den Blick über den europäischen Kontext hinaus zu lenken. Verena Teissl nimmt diese Forderungen ernst und zeigt, daß im Spiegel einer heterogenen und synkretistischen Kultur, anhand der phantastischen Literatur Mexikos, unsere eigenen Synkretismen sichtbar und verständlich werden. Somit geht dieses Buch weit über eine reine Darstellung des „Magischen Realismus“ und der „Phantastischen Literatur“ im europäischen Kontext hinaus.

Das Buch bietet nicht nur eine Beschreibung dieser Traditionen (obwohl das Werk auch und gerade für jene interessant ist, die sich einen Gesamtüberblick über die Traditionen phantastischer Literatur im europäischen Kontext sowie über den magischen Realismus Mexikos verschaffen wollen), sondern zeigt die vielfältige Vernetzung europäischer mit lateinamerikanischen und mexikanischen Traditonen, wo nicht nur Waren (und Menschen) hin und her transportiert wurden, sondern vor allem auch imaginierte Welten, welche die je eigene Kultur immer veränderten. Dabei war Amerika meist das „‚Hintertürchen‘ Europas, das durch seine idealisierte und imaginierte Präsenz sowohl dem Fortschrittsdenken als auch der Zivilisationskritik diente“ (S. 18).

Das Bild des Fremden wurde anfangs über Reiseberichte vermittelt, später – im „Boom“ lateinamerikanischer Literatur der 70er Jahre – auch über literarische Texte aus Lateinamerika, deren Autoren ja wiederum vom europäischen Denken beeinflußt waren, beispielsweise vom Surrealismus (Miguel Asturias und Alejo Carpentier etwa waren in Paris, die Surrealisten Breton und Artaud wiederum besuchten Mexiko). Dabei legt Teissl jedoch auch deutlich die Unterscheide zwischen der phantastischen Traditon in Europa und der magischen in Lateinamerika offen. Während der „Magische Realismus“ in Lateinamerika Ausdruck des eigenen kulturellen Verständnisses ist, ist das Lesen phantastischer Literatur in Europa doch häufig marginal oder reine Unterhaltung und Flucht. Anhand der „imaginierten Welten“, anhand der Vorstellungen und Bilder einer Kultur über fremde Kulturen, zeigt Teissl, wie nahe uns immer noch die Oppositionen sind wie zivilisiert-unzivilisiert, entwickelt-primitiv, Rationalismus (Europa)-Irrationalismus (Lateinamerika), wobei die Autorin nun nicht den allzu häufig gemachten Fehler begeht, der abwertenden Opposition „rationales Europa“ contra „irrationales Mexiko“ beispielsweise damit zu begegnen, daß sie hervorstreicht, dass „ja eigentlich auch die Mexikaner ganz rational wären“.

Teissl geht den umgekehrten Weg, denn sie wertet irrationale Zugänge zur Realität auf – allerdings keineswegs im Sinne der langen europäisch-romantischen Tradition, die den „Edlen Wilden“ als Bild des glücklichen weil einfachen Menschen verklärte (auch dieses Bild wird von der Autorin kritisch hinterfragt). Und sie zeigt, daß die „irrationale Seite“ des Menschen auch in Europa nicht nur einen reichhaltigen Ausdruck gefunden hat, sondern auch oft ein Bild von (Latein-)Amerika vermittelt: Franz Kafka (Amerika), Ernst Jünger (An der Zeitmauer), Hermann Kasack (Die Stadt hinter dem Strom), Alfred Kubin (Die andere Seite), Herbert Rosendorfer (Der Ruinenbaumeister), Gustav Meyrink, Paul Leppin und vor allem auch Leo Perutz, in dessen Roman Die dritte Kugel die Eroberung Tenochtitlans durch die Spanier geschildert wird (wobei auch – entgegen der historischen Realität – eine Gruppe von Deutschen mitmischt). Perutz folgt dem Grundsatz (der verblüffend postmodern anmutet), daß „es keine objektive Geschichte gibt, sondern nur Geschichten“ (S. 116). Er konfrontiert die von „grausamen und von irrationalen Mächten dominierte[n] Welt“ (ebd.) der Spanier und der Deutschen mit der indianischen Welt der Azteken. Perutz verbleibt zwar im Bild des „Guten Wilden“, allerdings ist dieses nicht mehr passives Wahrnehmungsbild für zivilisationsmüde Europäer, sondern die Irrationalität der indianischen Welt wird als „handlungsauslösende Kraft zerstörerisch und tödlich“ (ebd.).

Nicht zuletzt werden mit diesem Buch auch jene vollauf zufriedengestellt, die sich vor allem für die theoretische Auseinandersetzung (hier vor allem die Ansätze von Roger Callois und Tzvetan Todorov sowie Miguel Angel Asturias und Alejo Carpentier) rund um den Bereich phantastischer oder magischer Literatur interessieren: Denn dies dürfte die erste umfassende theoretische Beschreibung des Verhältnisses (plus dessen Geschichte) phantastischer Literatur in Europa und des magischen Realismus in Lateinamerika sein.

Am Ende des Buches findet man ein sehr gutes Literaturverzeichnis, das durch die Unterteilung in Fachgebiete den LeserInnen schnelle Information bietet, sowie eine Zeittafel der Geschichte Mexikos, welche neueste Entwicklungen miteinbezieht. Eine etwas ausgefeiltere Redigierung und Lektorierung hätte der Lesbarkeit des Buches, dem man den akademischen Ursprung (als Dissertation) allzu deutlich anmerkt, allerdings gut getan.

Verena Teissl Utopia, Merlin und das Fremde. Eine literaturgeschichtliche Betrachtung des magischen Realismus aus Mexiko und der deutschsprachigen phantastischen Literatur auf Basis der europäischen Utopia-Idee.
Innsbruck: Universität Innsbruck, 1997.
(Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft).
208 Seiten, broschiert.
ISBN 3-85124-186-X.

Rezension vom 03.09.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.