Aber nicht nur der geographische Raum ist hier ein anderer, auch und vor allem der Entstehungsprozeß des Buches. Mit Fotoapparat und Literaturlexikon ausgestattet begaben sich siebzehn Mädchen und Burschen des Maturajahrganges 1997/98 des Sigmund Freud-Gymnasiums auf die Suche nach sichtbaren „Lesezeichen“ im Wiener Stadtbild. Die aufgesuchten und beschriebenen Gedenkstätten, Denkmäler, Gräber und Gedenktafeln fügen sich zu einer Art „steineren Literaturgeschichte“ (S. 27) zusammen. Die Begeisterung, die hinter diesem Projekt stand, ist lesbar, aber es zeigt sich auch eine enorme Sachkenntnis. Jedes Beispiel ist versehen mit kundigen Kommentaren, Informationen und eingängigen Textauszügen zu den einzelnen Dichterleben ebenso wie zur Geschichte der Gedenkeinrichtungen selbst. Originell ist auch das „Dramolett unter toten Dichtern“ von vier als Autorinnen und Suchtrupp ausgewiesenen SchülerInnen, das mit dem Titel „Kampf dem Mief im Archiv!“ ernst macht: Dichterarchive und Gedenkräume werden in einem Dialog der Dichter im Jenseits vorgestellt, die Zustand, Zugänglichkeit und Aufbereitung ihrer Gedenkräume aber auch die generelle Sinnhaftigkeit derartiger Einrichtungen diskutieren.
Es ist absolut nicht störend, daß die Auswahlkriterien nicht immer genauer spezifiziert sind oder als Argument schon einmal das klare Bekenntnis zur Subjektivität herhalten muß, wie beim Kapitel „Schau-mal: Denk-mal“, wo es der Projektgruppe Iris, Kathi und Clemens um die Frage ging, „wie sprechen die einzelnen Monumente den Betrachter an“. Es trägt zur Buntheit des Bandes bei, daß so die Interessenspuren der recherchierenden SchülerInnen mitlesbar werden. Auffallend etwa, daß zwei BeiträgerInnen in einem eigenen, mit umfangreichen Materialien und Beschreibungen sehr gut aufbereiteten Kapitel einen fundierten wohnbiografischen Abriß zu Franz Grillparzer (mit angefügtem Rundgangsvorschlag) geben. Oder war das Unterrichtsvorgabe? Ein wenig bedauerlich, daß die Herausgeberin nicht mehr Informationen über den Entstehungsprozeß gibt, man würde gerne erfahren, wie die Arbeit am Buch konkret funktioniert hat.
Als Einstieg ist ein Rundgang zum Thema „Auch Dichter machten Schule“ von Claudia Girardi zu lesen. Er stellt nicht nur Wissenswertes über den Schulbesuch von Schriftstellern in Wien vor, er macht aus dem vorliegenden Projektbuch gleichsam eine Art Kommentar zu den häufig negativen Schilderungen über den Schulbesuch von anno dazumal. Anregend und unterhaltsam ist diese Literatour durch Wien aber keineswegs nur für Schüler. Konkrete Routenbeschreibungen, ein umfangreicher und sorgfältig aufbereiteter Anhang mit Register, Stadtplan und Kurzbiografien der Dichter machen den Band für jeden Literatouristen wertvoll. Sehr praktisch, daß der Band gebunden und so nicht nur vom Inhalt her auf Dauer und häufige Benutzbarkeit abgestellt ist.