Ich muß gestehen, ich war ein wenig enttäuscht: Das Buch gliedert sich in 81 kleine, unverbunden nebeneinander stehende Kapitel, die jeweils einem Haus oder einer Straße gewidmet sind. Den Anspruch der Verfasser, mittels „Aufzeigen fast nebensächlicher historischer Episoden oder, in unserem Fall, auch von topographisch-strukturellen Gegebenheiten“ die „unausgesprochene[n] kulturelle[n] Wertnormen der Gesellschaft aufzudecken“ (Vorwort, S. VIII), teile ich uneingeschränkt, und ich meine, daß es ihnen durchaus gelungen ist, diesen Anspruch einzulösen, allerdings bleibt dabei die Lesefreude und die Spannung, die ich am „alten“ Buch so genossen habe, leider immer wieder auf der Strecke: Es wird den LeserInnen eine solche Fülle an – vor allem stadtgeographischer und meldeamtlicher – Information geboten, daß man sich an positivistische Werke der Jahrhundertwende erinnert fühlt und den interessanteren Teil des öfteren etwas mühsam zwischen den Zeilen hervorklauben muß; einige Male fühlte ich mich an einen Auszug aus dem Melderegister erinnert. Zumindest Nicht-Wiener und Nicht-Wittgensteinianer – Ludwig Wittgenstein selbst kommt nur am Rande vor – werden an diesem Buch auch manchmal scheitern, denn man muß schon eine ganze Menge an Vorwissen (über Wien und am besten auch über Wittgenstein) mitbringen, um sich im Straßengewirr und den verwirrenden Verwandtschaftsbeziehungen (die bis zum letzten Großneffen aufgelistet werden) zurecht zu finden. Wenn man dieses Vorwissen mitbringt, dann ist das Buch auf jeden Fall ein kostbarer Schatz zusätzlicher und bestens recherchierter Daten: Wer, durch die umfangreiche Wittgenstein-Sekundärliteratur geleitet, glaubt, daß es zum Thema Wiener Jahrhundertwende und Wittgenstein nichts Neues mehr zu sagen gäbe, wird hier schnell eines Besseren belehrt; und wer die Mühe nicht scheut, sich durch den Wust an Information durchzukämpfen, stößt immer wieder auf wahre Juwelen: Zitate, versteckte Interpretationen eines Ereignisses, neue Sichtweisen bekannter Begegnungen etc.
Spannend wird das Buch, wenn die Informationen an den Rand gedrängt werden, wenn die Autoren beispielsweise von den frühen philosophischen Texten Ingeborg Bachmanns berichten (im Kapitel „Dichter und Denker“), wenn die Geschichte des Schlick-Attentäters Johann Nelböck erzählt wird („Mord in der metaphysischen Provinz“), wenn die Gründerzeit in Wien beschrieben wird („Maria Pott, Private“) oder wenn Wittgensteins Verhältnis zu Ludwig Hänsel („Eine Art von Widerspruchsfreiheit“) zur Sprache kommt, letztere eine wunderschöne Passage.
Positiv fällt auch auf, daß Ludwig Wittgenstein nicht – wie es in sehr vielen Texten über ihn der Fall ist – glorifiziert wird, sondern wie im Vorübergehen auch seine unangenehmen Seiten zum Vorschein kommen: Seine oft romantisch verklärte Volksschullehrerzeit wird ins rechte Licht gerückt (z. B. im Kapitel „Wörterbuch diktiert“), oder sein unfreundlicher oder gar ignoranter Umgang mit Menschen (etwa mit Friedrich Waismann oder mit Ludwig Hänsel) wird geschildert. Aber – wie gesagt – solche Informationen verschwinden zu oft in der Menge der Jahreszahlen und Namen.
Am Ende der Kapitel finden sich die Öffnungszeiten der im Text genannten Cafés und Museen, und wenn es noch einen Stadtplan und die Skizze eines Stammbaums der Familie Wittgenstein (als Faltblatt!) gäbe, dann stünde einer Wienreise nichts im Wege.