„Das jüdische Theater wurde von Einwanderern, die vor allem aus Lemberg und Umgebung stammten, nach Wien gebracht. Es war nicht hier entstanden, wurde in der Sprache einer Minderheit gespielt und war jenen deutschsprachigen Wiener Juden, die weder Jiddischisten noch Nationalisten waren, fremd.“ (S. 157) Mit diesem Zitat ist die eigentliche Problematik des Themenkreises umrissen: das jiddische oder jüdische Theater hatte nicht nur Antisemiten als Gegner, sondern erfreute sich auch unter den alteingesessenen Juden Wiens keiner hohen Beliebtheit. Zwar stellten die Theater z. B. Arthur Schnitzler oder anderen angesehenen Persönlichkeiten Dolmetscher zum besseren Verständnis der Stücke zur Verfügung, Schnitzler war aber nicht sehr angetan von der Vorstellung, daß seine Stücke in dieses „Kauderwelsch“, ins Jiddische, übersetzt werden sollten.
Das Buch beginnt mit einem kurzen historischen Abriß der Geschichte des jüdischen Theaters in Europa, erläutert die Entwicklung des Jiddischen in sozialer und kultureller Hinsicht und beginnt anschaulich mit einigen Beispielen bekannterer jüdischer Dramatiker. Diese Einführung ist ausreichend, um neugierig auf alles weitere zu machen. Die wichtigsten Stücke – nicht unbedingt diejenigen, die als literarisch wertvoll bezeichnet werden müssen, sondern solche, deren Bedeutung oft von außerkulturellen Faktoren abhängt – werden inhaltlich vorgestellt und kommentiert, die Leistungen einzelner Dichter, Schauspieler und Theaterleiter dokumentiert und gewürdigt. Um das Bild abzurunden, werden immer wieder auch die Reaktionen der Öffentlichkeit – sowohl jüdischer als auch nichtjüdischer Rezensenten – eingebracht. Man spürt, daß die Dokumentation viel Leben durch die von Dalinger geführten Gespräche mit noch lebenden Zeitzeugen erhält.
Kein Aspekt ist ausgelassen: sowohl Gastspiele der verschiedenen Truppen in den Provinzen der Monarchie sind beschrieben, als auch die oft sehr kurzen Geschichten aller Theater, die im Laufe der 30jährigen Lebenszeit des jüdischen Theaters in Wien entstanden waren; dem Kabarett ist ebenfalls ein Abschnitt gewidmet.
Das jüdische Theater in Wien schaffte es, innerhalb nur sehr kurzer Zeit zu einer sehr hohen Blüte zu kommen, wenn es auch keine so spektakuläre Erfolgsgeschichte ist, wie etwa die des jüdischen Theaters in Wilna; Dalingers Buch hilft, dieses Phänomen nachzuvollziehen. Unbegreiflich ist es jedoch, daß es 50 Jahre gedauert hat (1938 bedeutete das Ende des jüdischen Theaters in Wien), bis sich die Theaterstadt Wien wieder an eine wesentliche Facette ihrer Kulturgeschichte erinnert.
Sehr interessant ist auch der Abschnitt mit den Lebensläufen der wichtigsten Theaterkünstler; die meisten Mitwirkenden der jiddischen Bühnen starben in KZs oder sind verschollen, während der Großteil zumindest der in Dalingers Buch behandelten Mitglieder der deutschsprachigen Bühnen den Weg ins Exil schaffte. Eine sehr wichtige Arbeit, eingängig geschrieben, die den Wunsch weckt, Einzeldarstellungen zu Autoren, Schauspielern oder Theaterleitern folgen zu lassen.