#Sachbuch

Erinnerungspolitik und Gegenwartsliteratur

Claas Morgenroth

// Rezension von Martin Sexl

Claas Morgenroth, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur der TU Dortmund, legt mit diesem Buch, das bereits 2008 als Dissertation an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf vorgelegt wurde, eine detailreiche und fundierte literaturwissenschaftliche Analyse vor, die vier literarische Texte – Volker Brauns Das unbesetzte Gebiet, Thomas Meineckes The Church of John F. Kennedy, Kathrin Rögglas really ground zero und Bernhard Schlinks Der Vorleser – ausgehend von der Verschränkung der Frage des ›Politischen‹ mit der »ausufernde[n] kulturwissenschaftliche[n] Modellierung der Erinnerung/des Gedächtnisses « (S. 9) im Lichte der Fragen untersucht, »was für ein Bild die Literatur von der Politik der Gegenwart entwirft, was für einen Begriff des Politischen sie explizit oder implizit verwendet bzw. in welcher Weise sie ›Politik‹ reproduziert und produziert« (S. 16). Die Begriffe »Reproduktion« und »Produktion« deuten bereits an, wo Morgenroth die Wirkungsweise literarischer Texte verortet: in der Spiegelung politischer Verhältnisse (durch die Formulierung von Erinnerung an politische Ereignisse, wodurch Vergangenheit für eine Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann und wird) ebenso wie in der performativen Konstruktion des ›Politischen‹.

Ausgangspunkt der Untersuchung stellen dabei kulturwissenschaftliche Ansätze dar – insbesondere die von Pierre Nora, Vittoria Borsò sowie von Aleida und Jan Assmann (die Morgenroth durchaus auch in ein kritisches Licht rückt) –, die den Zusammenhang von Gedächtnis, Geschichte, Erinnerung und Politik ins Zentrum stellen, wobei Morgenroth zu Beginn die Begriffe der Politik und des Politischen problematisiert (anhand der Kategorien von Raum, Zeit und Kontingenz), um dann in zweierlei Hinsicht über übliche Formen hinauszugehen, mit denen in der Regel der Ort der Literatur in historischen respektive politischen Zusammenhängen verortet wird: Erstens kontrastiert er mit Pierre Nora den Gedächtnisdiskurs mit dem Diskurs der Geschichte, wobei Morgenroth völlig zu Recht »die Differenz von Geschichte und Gedächtnis mit der von Politik und von Kultur respektive der von Gesellschaft und Gemeinschaft parallelisiert« (S. 15), wobei diese (problematische) Differenz auch die zwischen privat und öffentlich markiert (S. 266). (Eine vergleichbare Parallelführung hat Susanne Lüdemann bereits 2004 in ihrem Buch Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären vorgezeigt, das in Morgenroths sehr ausführlicher und vorbildlicher Bibliographie leider unerwähnt bleibt.) Zweitens kritisiert er die »Entsinnlichungstendenz« politiktheoretischer und postfundamentaler Theoriediskurse (S. 28), die gegenüber den »(biopolitischen) Techniken des Selbst« blind bleiben und »der Erinnerung als Erzähltechnik des Politischen kaum Bedeutung [zubilligen]. Dabei formieren Figurenzeichnung, Erzählperspektive, Stoff-, Raum- oder Zeitgestaltung auf evidente Weise das politische Subjekt und die Raum- und Zeitkonstituenten des Politischen mit.« (S. 28) In anderen Worten: Die Politik und das Politische haben immer etwas ›Literarisches‹ an sich, weil nur in Narrativen erinnert werden kann und nur durch Erinnerung Politik möglich wird.

Durch die Verschränkung politologischer (und nicht ausschließlich erinnerungskultureller) Diskurse mit literaturwissenschaftlichen vermag Morgenroth blinde Flecke von Politik- wie von Literaturwissenschaft zu erhellen: die der Politikwissenschaft, indem er die Konstruktionsleistung fiktionaler Texte und Textstrategien für die Gestaltung von Geschichte und Politik offenlegt (hier ist die Unterscheidung von story und discourse erkenntnisleitend), die der Literaturwissenschaft, indem er die politische Kraft literarischer Texte markiert (ohne überholte Analyseraster zu revitalisieren, mit denen der Ort »engagierter Literatur« in der Regel beschrieben wird). »Politik und Literatur können nun als Kräfteverhältnis zur Sprache gebracht werden, so wie es gemeinhin getan wird: als Bemächtigung der Literatur durch Politik (Politische Literatur bzw. Politisierung der Kunst) und als Ent- und Ermächtigung der Politik durch Kunst/Literatur (Ästhetisierung der Politik).« (S. 44)

Dabei konzipiert Morgenroth den Konnex zwischen dem Politischen und der Literatur zunächst denkbar einfach: Mit Hartmut Rosa wird das Politische definiert als Antwort auf die Frage »Wie will ich leben?«, die Rosa reformuliert als »Wie will ich keine Zeit verbringen?«; und die Literatur liefert Antworten, weil sie die Zeit in Form von Narrativen organisiert (S. 35). Dass Zeiterfahrung nicht natürlich ist, sondern von sozialen Strukturen und kulturellen Leitbildern abhängt und daher der vermittelnden Erzählung bedarf, ist klar, dass Morgenroth den Bachtin‘schen Chronotopos ins Spiel bringt, folgerichtig. Deutlich wird dabei auch, dass es dabei um Identitätspolitik geht, die der Stabilisierung bedarf, die ohne Narrative weder gewährleistet noch kritisiert werden kann.

Um die Leistung literarischer Texte für die Politik respektive für das Politische zu demonstrieren, widmet sich Morgenroth der Gegenwartsliteratur (wobei er sich der Schwierigkeiten der Definition diese Begriffes bewusst ist; vgl. S. 54), wobei er Texte in den Blick nimmt, die an »zeitlichen Grenzen« (S. 54) angesiedelt sind (1945, 1968, 1989, 2001) und die Erinnerung selbstreflexiv und selbstreferentiell thematisieren, wo Erinnerung also zu einem literarischen Motiv wird. Was in den einleitenden und allgemeineren Kapiteln manchmal das Konzeptuelle überlagert – nämlich Morgenroths Detailgenauigkeit und (beinahe zu) umfassend vorgetragene Kenntnis relevanter Forschungsansätze (dies ist jedich auch der Textsorte »Dissertation« geschuldet) – wird in den Analysen der vier genannten Texte zu einer Stärke: Mit viel narratologischem Gespür und Wissen beschreibt Morgenroth etwa Erzählstrukturen und wie diese politische Wirksamkeit erlangen. Differenziert und kenntnisreich vermag Morgenroth die Funktionsweisen der Texte offen zu legen und sie in die komplexen Kontexte ihrer Publikation und Rezeption einzubetten, wobei er auch hier bereits vorliegende Interpretationen einer (kritischen) (Re-)Lektüre unterzieht. Gerade bei Schlinks Vorleser sind diese Interpretationen, wie Morgenroth aufzeigt (S. 238ff.), in unterschiedlichen Rezeptionsphasen und unterschiedlichen Ländern ganz unterschiedlich ausgefallen. Im Nachvollzug der Rezeption gelingt Morgenroth der Aufweis, dass es auch nicht nur literarische Texte sind, die für die Erinnerungs- und Gedächtnispolitik von Gesellschaften bedeutsam werden, sondern auch deren Kontextualisierung und Aufnahme.

Nur manchmal (etwa bei der Analyse von Kathrin Rögglas Text) fällt auf, dass trotz der Verweise auf Niklas Luhmann die Kategorien des Politischen und Ästhetischen auch dann nicht trennscharf voneinander geschieden werden, wenn dies möglich und notwendig wäre. So geht es, um es an einem Beispiel zu erläutern, bei der Auseinandersetzung mit 9/11 meines Erachtens nicht darum, »mit dem 11. September als ästhetischem Ereignis richtig umzugehen« (S. 202), sondern wohl eher um die Frage, wie mit dem Ereignis ästhetisch angemessen verfahren werden und es durch Darstellung (Präsentation, Repräsentation, Fiktionalisierung, Ästhetisierung etc.) in einen Erinnerungsdiskurs konstruktiv eingeschrieben werden kann. Morgenroth distanziert sich zwar, um beim Beispiel zu bleiben, wohltuenderweise von allzu radikal ›postmodernen Interpretationen‹ der Anschläge vom 11. September 2001 – etwa durch Baudrillard oder Stockhausen –, macht allerdings selbst nicht immer deutlich genug, wie sich seine eigene Lektüre davon abgrenzen möchte oder ließe.

Morgenroth legt mit seiner Dissertation eine sehr kundige Untersuchung des Zusammenhangs zwischen (Erinnerungs-)Politik und (Gegenwarts-)Literatur vor, die außer einigen ›kleinen Unübersichtlichkeiten‹ eigentlich nur das Manko aufweist, lange sechs Jahre nach der Einreichung publiziert worden zu sein.

Claas Morgenroth Erinnerungspolitik und Gegenwartsliteratur
Sachbuch.
Berlin: Erich-Schmidt-Verlag, 2014.
319 S.; brosch.
ISBN 978-3-503-13786-2.

Rezension vom 05.03.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.