Franz Herres Buch über die letzte Jahrhundertwende enthält sich weitgehend der gängigen Klischees und erzählt, wie sich allmählich in den Mentalitäten und den Ideologien die Voraussetzungen der Bereitschaft für die kriegerische Option herausbildeten. Herre zeichnet Porträts von fünf Metropolen, die alle mehr oder weniger stark an dem Konflikt zwischen der ungeheuren Zunahme an technischen Möglichkeiten und einer sich aus ganz verschiedenen Quellen speisenden Untergangsstimmung laborierten. Sie alle, vom Petersburg des unglücklichen Zaren bis zum victorianischen London, sind an der Vorbereitung der Katastrophe des Weltkrieges auf ihre Art beteiligt und liefern gleichzeitig bestimmende Materialien für die Lebensform des zwanzigsten Jahrhunderts.
Berlin, mit seiner an kollektiven Zurücksetzungsgefühlen laborierenden militarisierten Gesellschaft, in der auf 350 Einwohner ein Schutzmann kam, seinem angeberischem „Heldenkaiser“ und den ihn bewundernden, nicht nur von Heinrich Mann porträtierten „Untertanen“, vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck einer industriell expansiven Gesellschaft. Doch schon der Reichsgründer Bismarck hatte 1896 mit dem Satz „Alles stürzt einmal zusammen“ ihre Labilität prognostiziert. Dieses in Berlin durch einen hektischen Optimismus abgewehrte Bedrohungsgefühl wird in Wien zelebriert und verdichtet sich zu einer bewußten, sorgfältig geregelten Stimmung der Dekadenz. Satirisch begreift sich Wien als „Versuchsstation des Weltuntergangs“. Einflußreiche Bücher wie die von Carl Schorske und Jacques LeRider haben Wien den Status der Fin de siécle-Stadt par excellence zugeschrieben – in Herres vergleichender Darstellung, die sich weitgehend jeder philosophischen Deutung enthält, besteht aber kein Zweifel, daß der Titel vom „Laboratorium des Modernismus“ viel eher Paris zukommt. Alle beschriebenen Metropolen haben auf ihre Weise ihren Beitrag zum Untergang geleistet, offen bleibt die Frage, welche von ihnen was zur Lebensform des zwanzigsten Jahrhunderts beigetragen hat. Im victorianischen London etwa entwickelten sich deutliche Vorformen einer fortschrittsgläubigen, moralisch rigiden bürgerlichen Gesellschaft, die auf einer parlamentarischen Monarchie basiert, Wohlstand für alle und Weltgeltung anstrebt. Auch hier hat man eine übergreifende Mission, nämlich die – bei Herre interessanterweise nicht nur mit dem Imperialisten Cecil Rhodes, sondern auch mit dessen Lehrer John Ruskin belegte – der Welt durch den Aufbau eines zivilisierenden Kolonialreichs Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu schenken.
Die Porträts, die Herre zeichnet, kreisen um die politische Elite, um Architektur, Industrie, die damit verknüpfte soziale Frage und die schönen Künste. Exemplarisch werden die großen Affairen – etwa Dreyfus oder Oscar Wilde – dargestellt. Der vergleichende Ansatz, den Herre gewählt hat, ist wertvoll, weil er das Vorurteil von einer sozusagen typischen Jahrhundertwende zerstört – hier sind es fünf beschriebene Jahrhundertwenden und wenn man Budapest, Rom und Madrid berücksichtigt, kommt man wahrscheinlich zu einem noch differenzierteren Bild.