#Sachbuch

Jahrhundertwende 1900

Franz Herre

// Rezension von Alfred Pfabigan

Im August 1898, vier Jahre nach Antritt seiner Regentschaft, veröffentlichte Nikolaus II. ein aufsehenerregendes Friedensmanifest. Der „bewaffnete Frieden“ sei nicht der wahre, so der engagierte aber schwache Zar, der in einigen Jahren zur Symbolfigur der verhaßten russischen Rückständigkeit werden sollte, und plädiert für „eine mächtige Herabsetzung der übermäßigen Rüstungen“ und für die Einberufung einer internationalen Abrüstungskonferenz. Das Manifest wird kontrovers aufgenommen, während Henri Dunant und Bertha von Suttner den „Stern der Friedenssache“ leuchten sehen, argwöhnen in einer eigenartigen Koalition der imperialistische Dichter Rudyard Kipling und die deutsche Sozialdemokratie einen Trick der rüstungsmäßig schwachen russischen Reichsführung. Dennoch kommt es am Geburtstag des Zaren, am 18. Mai 1899, in Haag zu einer internationalen Friedenskonferenz, deren mäßiger Erfolg sich auf die Verabschiedung einiger Resolutionen beschränkt – das Gleiche gilt für die Nachfolgekonferenz 1907. Parallel zu diesen erfolglosen Bemühungen entwickelt sich in den europäischen Staaten in den Jahren der Jahrhundertwende eine kollektive Stimmung, die dem Krieg mit ganz verschiedenen Begründungen das Monopol auf die Kompetenz zur Lösung anstehender Probleme zuerkennt.

Franz Herres Buch über die letzte Jahrhundertwende enthält sich weitgehend der gängigen Klischees und erzählt, wie sich allmählich in den Mentalitäten und den Ideologien die Voraussetzungen der Bereitschaft für die kriegerische Option herausbildeten. Herre zeichnet Porträts von fünf Metropolen, die alle mehr oder weniger stark an dem Konflikt zwischen der ungeheuren Zunahme an technischen Möglichkeiten und einer sich aus ganz verschiedenen Quellen speisenden Untergangsstimmung laborierten. Sie alle, vom Petersburg des unglücklichen Zaren bis zum victorianischen London, sind an der Vorbereitung der Katastrophe des Weltkrieges auf ihre Art beteiligt und liefern gleichzeitig bestimmende Materialien für die Lebensform des zwanzigsten Jahrhunderts.

Berlin, mit seiner an kollektiven Zurücksetzungsgefühlen laborierenden militarisierten Gesellschaft, in der auf 350 Einwohner ein Schutzmann kam, seinem angeberischem „Heldenkaiser“ und den ihn bewundernden, nicht nur von Heinrich Mann porträtierten „Untertanen“, vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck einer industriell expansiven Gesellschaft. Doch schon der Reichsgründer Bismarck hatte 1896 mit dem Satz „Alles stürzt einmal zusammen“ ihre Labilität prognostiziert. Dieses in Berlin durch einen hektischen Optimismus abgewehrte Bedrohungsgefühl wird in Wien zelebriert und verdichtet sich zu einer bewußten, sorgfältig geregelten Stimmung der Dekadenz. Satirisch begreift sich Wien als „Versuchsstation des Weltuntergangs“. Einflußreiche Bücher wie die von Carl Schorske und Jacques LeRider haben Wien den Status der Fin de siécle-Stadt par excellence zugeschrieben – in Herres vergleichender Darstellung, die sich weitgehend jeder philosophischen Deutung enthält, besteht aber kein Zweifel, daß der Titel vom „Laboratorium des Modernismus“ viel eher Paris zukommt. Alle beschriebenen Metropolen haben auf ihre Weise ihren Beitrag zum Untergang geleistet, offen bleibt die Frage, welche von ihnen was zur Lebensform des zwanzigsten Jahrhunderts beigetragen hat. Im victorianischen London etwa entwickelten sich deutliche Vorformen einer fortschrittsgläubigen, moralisch rigiden bürgerlichen Gesellschaft, die auf einer parlamentarischen Monarchie basiert, Wohlstand für alle und Weltgeltung anstrebt. Auch hier hat man eine übergreifende Mission, nämlich die – bei Herre interessanterweise nicht nur mit dem Imperialisten Cecil Rhodes, sondern auch mit dessen Lehrer John Ruskin belegte – der Welt durch den Aufbau eines zivilisierenden Kolonialreichs Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu schenken.

Die Porträts, die Herre zeichnet, kreisen um die politische Elite, um Architektur, Industrie, die damit verknüpfte soziale Frage und die schönen Künste. Exemplarisch werden die großen Affairen – etwa Dreyfus oder Oscar Wilde – dargestellt. Der vergleichende Ansatz, den Herre gewählt hat, ist wertvoll, weil er das Vorurteil von einer sozusagen typischen Jahrhundertwende zerstört – hier sind es fünf beschriebene Jahrhundertwenden und wenn man Budapest, Rom und Madrid berücksichtigt, kommt man wahrscheinlich zu einem noch differenzierteren Bild.

Franz Herre Jahrhundertwende 1900. Untergangsstimmung und Fortschrittsglauben.
Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1998.
288 Seiten, gebunden, mit Abbildungen.
ISBN 3-421-05155-0.

Rezension vom 10.02.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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