So hat sie in den letzten Jahren unter dem Pseudonym .aufzeichnensysteme drei Bücher vorgelegt, die „das Zusammenspiel von Person, Werk und Rezeption als poetische[m] System [thematisieren]“, wie in Hanne Römers Eintrag im Berliner Haus für Poesie zu lesen ist. Aus den Büchern entwickelten sich überdies auch Hörstücke für den Rundfunk sowie Exponate visueller Kunst, die in öffentlichen und privaten Sammlungen zu finden sind – Literatur also als Ausgangspunkt für ein das Sehen und Hören ansprechendes übergreifendes Kunsterlebnis.
Das neueste Werk Datum Peak ist wie die vorhergehende Trilogie einer Kompression (IM GRÜNEN, 2017; GRATE, 2019; RAUTE, 2021) beim Ritter Verlag erschienen und folgt dieser bis ins Detail in Bezug auf das äußere Erscheinungsbild. So wird bereits aufs erste Ansehen hin eine Verbindung hergestellt.
Der Band ist in vier Kapitel aufgeteilt, die zunächst auf die falsche Fährte einer schlichten Übernahme von Antik-Elementarem führen, dann aber ihre eigene innere Logik entwickeln: Wasser, Luft, Hitze, Datum lauten die Überschriften. Trägt die Hitze immerhin noch das Element Feuer in sich, so hat sich das Datum schon vollkommen von der eigentlich zu erwartenden Erde emanzipiert. Eine materiale Fortschreibung hat sich in eine temporale verwandelt. Bei dieser Versuchsanordnung schwingen ebenfalls die .aufzeichnensysteme mit, in denen ähnliche Ein-Wort-Titel gewählt wurden. So spricht denn der Klappentext auch von einer Fortsetzung der „Systematik, Material eigener Schriften, Journale und Notizen korrespondierend in Kontakt treten zu lassen.“ Und doch gibt es gravierende Unterschiede.
Es finden sich hier Texturen, die sich inhaltlich deutlicher ineinander verschlingen als diejenigen der .aufzeichnensysteme früherer Jahre. Texturen, die engere semantische Bezüge wagen, die auf die bislang praktizierte konsequente Kleinschreibung verzichten. Texturen, die auch die Autorin nicht mehr ausblenden. Hat sich da etwa ein Anwendungsprinzip verwässert?
Das zu unterstellen wird dem Ergebnis des Buches Datum Peak nicht gerecht. Denn schon allein der Untertitel Eine Expedition weist unmissverständlich auf den Entdeckungscharakter des Textes hin. Es ist nicht nur eine Expedition in die Natur, die als generelles Sujet fungiert, sondern auch in die Sprache, ihre Widerständigkeiten und Verwerfungen, die nicht weniger anstrengend und gleichzeitig erkenntnisfördernd sind als die systematisch betriebene Auseinandersetzung mit dem (vorläufigen) Ergebnis des Evolutionären, sprich: nicht auf irgend eine Weise menschlich Überformten.
Expedition, Entdeckung ist eine Form im besten Falle behutsamer Aneignung. Hanne Römer eignet sich und uns unter Verwendung des Bezugsraumes Natur Sprache neu an und kommt damit zu ungeahnten Wirkungsweisen. Unser Verstehen bockt, mehr als einmal, fühlt sich herausgefordert, über den Tisch gezogen, zum Besten gehalten, bis es sich irgendwann an den Duktus des ewigen Aufbruchs, des Durchpflügens und Neu-Anordnens von Sinn und Sinnbezügen zu gewöhnen beginnt.
Eine durchgehende Handlung gibt es in dieser Anordnung natürlich nicht. Dennoch geht es im wesentlichen um zwei interagierende, namenlose Personen, die nur als „die Forscherin“ und „der Forscher“ apostrophiert werden. Die Erzählperspektive ist hierbei näher an der Forscherin angesiedelt; an ihren Beschreibungen, Affekten und Assoziationen müssen wir als Lesende andocken, um uns durch den Kosmos von Datum Peak zu bewegen. Selbst eine bindende zeitliche Abfolge wird immer wieder durchbrochen: „Die Jahreszeiten sind ineinandergeschoben.“ (S. 61)
Das Filigrane, Gedichtähnliche, ja Kammermusikalische der .aufzeichnensysteme wird gewissermaßen durch ein Moment vielstimmigen Zusammenspiels abgelöst, das ohne Weiteres auch wieder eine namentlich genannte Komponistin erträgt und seine Inhalte in ganzen Sätzen, in Prosaform, wiedergeben kann. Hier entsteht in jedem der kleinen Erzählansätze Welt, Kontext, der im Gedächtnis hängenbleibt wie Angeschwemmtes, das sich in seiner überbordenden und vollkommen gegensätzlichen Materialität nach und nach zu einer Art semantischem Verhau fügt, der der Bizarrerie eines Biberbaus nicht unähnlich ist. Kein Zufall also, dass das Forscherpaar dieser Expedition über weite Strecken gerade auch mit dem Entstehen und Erhalten solcher Biberburgen befasst ist.
Immer wieder wird der Text von kurzen Dialogen der beiden Forschenden unterbrochen, die nicht selten auch die Brüche in zuvor entwickelten semantischen Einheiten markieren:
[…] Bewegung von Fischschwärmen. Eine Ente mit ihren verbliebenen Jungen. Eine Frau bläst Töne auf einem Blatt. Eine Wolke in der Form einer Leinwand. Später Autos im Kreis. Wieder flattern Kormorane überstürzt davon. Abgeordnete, die schnell ins Parlament müssen. „Eine sich nicht äußernde Person hat noch lange nicht keine Meinung.“ – „Eine Anspielung auf, äh, die Mehrheit, äh, Minderheit?“ Der Forscher kommt ins Stottern. „Eine Anspielung auf den Borkenkäfer. In der Mehrheit beißt er kräftig zu mit Millionen Mäulern.“ Sie beißt in einen Apfel. Geruch von frischem Paprika und Beifuß schweben im Raum. […] (S. 57)
Durch solche mitunter aleatorisch anmutenden Verwebungen entsteht auch immer wieder eine unterschwellige Komik, die gesellschaftsrelevante Assoziationen zu wecken versteht. Schon die bereits erwähnten Kapitelbezeichnungen Wasser, Luft, Hitze, Datum könnten in Verbindung mit dem Titel Datum Peak einen Verweis auf die drohende Klimakatastrophe bedeuten – und auf die Tatsache, dass der Menschheit die Zeit wegläuft. Allerdings finden diese Verknüpfungen weniger im Text selbst als in den Automatismen der Rezeption statt; unsere Diskurse sind auf bestimmte Themen und Leitsätze getrimmt, die wir so verinnerlicht haben, dass wir sie problemlos in Literatur hineinzulesen imstande sind. Mit diesem Phänomen spielt die Autorin unablässig und sehr virtuos.
Denn natürlich hat Hanne Römer mit Datum Peak kein Umwelt- oder Klimamanifest literarisiert. Was auf diese Art der künstlerischen Auseinandersetzung entsteht, ließe sich allenfalls als ein subtiles Nudging, ein gewolltes Stupsen in die „richtige“ Richtung, interpretieren. Aber in Wahrheit scheint es wohl eher um den Spannungsbogen der einzelnen szenischen Arrangements zu gehen, ganz wie es der folgende Dialog ausdrückt:
„Ich kann dir nicht folgen.“
„Bleib einfach, wo du bist. Alles dreht eine Runde und kommt ganz von selbst wieder ins Bild. Nur an anderer Stelle.“ (S. 60)
Das genau schafft die nötige Offenheit im Text, um als Schnittstelle zu den anderen Künsten zu fungieren. Und so ist davon auszugehen, dass auch Datum Peak seine Fühler wieder hin zu weiteren Verarbeitungsebenen ausstrecken wird wie schon die vorangegangenen Textcollagen von Hanne Römer.
Marcus Neuert, geboren 1963 in Frankfurt am Main, Studium der Kulturwissenschaften an der FU Hagen, lebt und arbeitet nach langjährigen Stationen in Hessen und Baden-Württemberg als Autor, Musiker, Literaturkritiker und Kulturarbeiter in Minden/Westfalen und Coswig bei Dresden. Für seine Texte, die in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften sowie in mehreren Einzelpublikationen veröffentlicht wurden (zuletzt: Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen. Free Pen Verlag, Bonn 2018 sowie fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen. edition offenes feld, Dortmund 2021), erhielt er u. a. Auszeichnungen bei PostPoetry NRW (2014 und 2022), beim Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis (2017) und beim Lyrikpreis Meran (2021). Weitere Infos unter marcusneuert.jimdofree.com.