„Bei Thalheimer finden sich […] alle Figuren gleich welchem Milieu sie angehören, in einem Dunkel jenseits konkret verortbarer Räume […] zusammen“ (S. 43), so Gutjahr, während Schnitzler gerade mit der sozialen Ausdifferenzierung seines Personals im Reigen so „unerfreuliche Wahrheiten über seine Epoche“ (S. 110) gelangen, so Ursula Keller. Darauf zu verzichten, heißt die zweite zentrale „Antriebskraft“ des Stücks weglassen. Denn bei Schnitzler geht es eben nicht nur immer um das Eine, sondern genau um die Modifikationen, die das „Eine“ in der sozialen Überformung quer durch die Klassen erfährt. Schnitzler zeigt, dass Sexualität „alles andere denn lediglich ein ’natürlich-triebhafter‘ Akt ist“ (Wolfgang Lukas, S. 131). Dazu gehört auch, dass es nicht immer klaglos funktioniert: Nicht nur der junge Herr hat in der Szene mit der jungen Frau seine „dysfunktionalen Störungen“, auch im bürgerlichen Ehebett bedarf das Gelingen des Akts verbaler Motivationen mit langen Gesprächen über die Freuden und Leiden der gefallenen Mädchen. Das ist um eine Schraubendrehung raffinierter gebaut als eine simple Zack-zack-Logik.
Zweifellos ist Thalheimers Inszenierung eine legitime Relektüre für hier und heute, interessant aber wäre die Frage nach dem Warum dieser Interpretation gewesen, nach den Bezügen zu unserer mentalitätshistorischen Befindlichkeit heute. Natürlich fällt einem sofort die Flut der Spam-Mails zu Viagra, Penis-Enlargement und Vulva Designing ein. Doch im Buch kommen diese Aspekte gar nicht vor – nur Viagra wird im Beitrag von Benigna Gerisch am Rande erwähnt (S. 78). Auch Aids wird nicht angesprochen, obgleich zu den manifesten Syphilis-Ängsten im Reigen, die den realen Boden des „danse macabre“ (so der Titel des Beitrags von Ursula Keller) bilden, einige Parallelen bestehen. Die literarischen und kulturhistorischen Beiträge berühren die Frage nach der Aussage der konkreten Inszenierung kaum. Gunilla Budde schreibt über historische bürgerliche Liebeskonzepte, die Schnitzler immer wieder demontiert – nicht nur was die real existierende Doppelmoral betrifft, sondern auch die bürgerliche Geldheirat, denn die von Budde beschriebene bürgerliche Liebesheirat war weniger ein gelebtes denn ein literarisches Konzept.
In den abgedruckten Diskussionsausschnitten stellt Gunilla Budde überrascht und sichtlich nicht ganz überzeugt fest, sie habe immer gedacht, dass es sich bei den Kopulationspartnern des Reigen „um stark zeit- und situationsgebundene Figuren“ (S. 101) handeln würde. Tatsächlich agieren die Figuren bei Schnitzler nicht nur aus der Zeit heraus, sondern auch sozial definiert: Nicht nur die Prostituierte erwartet sich eine Bezahlung, einen zumindest kleinen (ökonomischen) Vorteil erwarten sich alle weiblichen Figuren in der Begegnung mit einem sozial „übergeordneten“ Partner: ein bescheidenes Abendessen das Stubenmädchen vom Soldaten (es wird dann nur ein einsames Bier daraus), ein opulentes Abendessen das Süße Mädel vom Ehemann, und irgendeine Belohnung will auch das Stubenmädchen vom jungen Herrn, weshalb sie nach seinem abrupten Abgang trotzig eine Zigarre klaut. Umgekehrt geht es dem jungen Herrn um die Realisierung eines Imagegewinns, „endlich“ eine ernsthafte, verheiratete Geliebte zu haben, nicht zu reden vom Dichter mit der arrivierten Schauspielerin. Und Schnitzler differenziert auch genderspezifisch im prae- und postkoitalen Verhalten: eilig haben es keineswegs alle Akteure in gleicher Weise. Es sind die Männer, die – so nicht das „Dysfunktionale“ dazwischenfunkt – schnell zum Ziel und danach noch schneller wieder weg kommen wollen.
„Gröber als um 1900 ist bei ihm der Umgang der Figuren miteinander (S. 118), so Ursula Keller, die Thalheimers Inszenierung als Folge der „hypersexualisierten Öffentlichkeit“ (ebd.) unserer Tage bezeichnet. Das wäre ein Ansatz gewesen für die entscheidenden Fragen. Wolfgang Lukas, der noch am konkretesten versucht, Gründe für die Differenzen Schnitzler/Thalheimer festzumachen, stellt auch am deutlichsten klar, dass das, was Thalheimer inszeniert „erkennbar nicht die Problematik der Wiener Kultur um 1900“ zum Thema hat. Das ist absolut legitim, nur hätte man sich in einem Buch zu dieser Inszenierung eben vor allem Beiträge gewünscht, die sich genau mit diesen „Sollbruchstellen“ auseinandersetzen. Das ist nicht ein Problem der Qualität der Beiträge – der fundierteste ist von Konstanze Fliedl, die der wienerischen Sprachartistik in den Dialogen nachspürt –, sondern des Konzepts.
Die Dramaturgin Sonja Anders war erstaunt „über das Lachen mancher Zuschauer“, weil es für die Schauspieler eine so harte Arbeit bedeutet“ (S. 175); vielleicht liegt genau darin eine mögliche Erklärung, doch es hat offenbar keinen Nachdenkprozess ausgelöst, auch nicht bei Regisseur Thalheimer (der im Übrigen den jungen Herrn und junge Frau bei Schnitzler in einem Stundenhotel vermutet, S. 176).
Es ist vielleicht die Zwittergestalt des Buches, die in diesem Fall nicht ganz aufgegangen ist: Informationen über Schnitzlers historischen „Reigen“ (in der vorangestellten Chronologie, S. 25-33), einige literaturwissenschaftlich spannende Aufsätze (Fliedl, Lukas, Keller), ein wenig Hintergrundinformation zur Sexualgeschichte (Gerisch, Budde) und ein wenig Information zur Aufführung (Gutjahr, Szenenfotos, Diskussionsausschnitte). Doch die organische Verbindung der Teile ist nicht ganz geglückt, vor allem hätte man sich ein größeres Augenmerk auf die Inszenierung im Kontext der aktuellen Befindlichkeiten unserer Gesellschaft gewünscht.