Es ist also durchaus zu begrüßen, dass rechtzeitig zur Saisoneröffnung ein neuer aufwändig ausgestatteter und schön gestalteter Bildband auf Hochglanzpapier erscheint. Das von Markus Rieger (Text) und Yvonne Oswald (Foto) verantwortete Buch gibt allerdings seine Intention nicht genau zu erkennen. Ist es als weiterer Band im Interesse touristischer Vermarktung gedacht, dann irritiert der Einstieg mit Schlagworten nach Foucault (Heterotopie, Widerlager) oder die Bemühung von Pierre Bourdieu zur Erklärung der Architekturkonkurrenz im Villenbau, die Wolfgang Kos in „Über den Semmering“ (1984) dargestellt hat.
Das vorliegende Buch ist auch nicht eigentlich eine „literarische Rundreise“, also eine Anthologie, sondern ein beschreibender Text über den Aufenthalt von Schriftstellern in der Region. Problematisch ist dabei, Bourdieus Konzept des „symbolischen Kapitals“ auf die einstigen Gäste der Region anzuwenden (S. 20f.); sie waren damals oft noch jung und absolut nicht prominent. Arthur Schnitzler war zur Zeit seiner Affäre mit Olga Waissnix ein junger Arzt und kein anerkannter Schriftsteller; Olga ist im Übrigen auch nicht mit Genia Hofreiter aus „Das weite Land“ zu vergleichen (S. 49), denn die verweigert ja gerade die Teilnahme am amourösen Flirtverhalten, das ist die Stärke ihres Gatten und auch die von Olga Waissnix. Und über Alfred Polgar, den genialen Stilisten seiner Zeit, zu lesen, er beschreibe etwas „mit einer an Altenberg gemahnenden Intensität“ (S. 182) ist doch einigermaßen verstörend.
Soll man das Buch als neuen Ansatz in der Beschäftigung mit der Kulturgeschichte der Region lesen, dann irritiert, dass es sich auf die „notorisch Verdächtigen“ beschränkt. Die Besuchsbeziehungen werden dabei nach den bekannten Mustern durchaus kundig abgehandelt, die ausführlichen Zitate, die im Band abgedruckt sind, entstammen den bekannten Textzeugnissen aus der Memoirenliteratur und den literarischen Verarbeitungen der Region.
So stehen für Reichenau Peter Altenberg, Arthur Schnitzler, Robert Musil, für die Prein Heimito von Doderer, für die Rax Sigmund Freud (Viktor Frankl fehlt hier), für Breitenstein Franz Werfel und Alma Mahler, für den Semmering Stefan Zweig, Altenberg, Hugo von Hofmannsthal, Schnitzler, Karl Kraus und Alfred Polgar. Einige weitere Namen werden noch erwähnt, aber kein einziger Text neu entdeckt. Sind Autorennamen einmal in den „Mythos“ der Sommerfrische in Wien-Nähe eingespeist, bleiben sie gewissermaßen drin, auch wenn ihre literarische Bedeutung nicht in der ersten Reihe zu verorten ist, wie etwa Richard Schaukal; neue Namen kommen hingegen selten dazu. Dabei gäbe es eine Menge schöner Texte zur Region erst noch zu entdecken, von Hans Flesch-Brunningen etwa oder Ernst Weiß, von Georg Kreisler, sogar an den politisch äußerst bedenklichen Karl Hans Strobl könnte man denken, immerhin enthält einer seiner Romane eine lange Episode, die unmittelbar im Weichtalhaus spielt. Und bei den Zeitgenossen gibt es nicht nur Robert Schindel und Friederike Mayröcker, sondern etwa auch Ludwig Lahers Ferdinand Sauter-Roman mit einer wunderbaren Schneeberg-Episode.
Die wahrscheinlichste Interpretation ist, dass das Buch als PR-Offensive für die Region gedacht ist. Das würde auch erklären, dass problematische Aspekte – wie Doderers NS-Verwicklung oder Altenbergs wieder einmal als „Begeisterung für junge Mädchen“ verharmloste sexuelle Orientierung, ausgespart oder allenfalls angetippt werden. Genauso wie die Tatsache, dass 1938 mit der flächendeckenden Arisierung der Villen nicht nur einen Niedergang der Region brachte, sondern auch die Ernennung zu einem Prominenten-Zielgebiet der NS-Aktion „Kraft durch Freude“. Und es würde auch die beiden letzten Kapitel erklären: Das sind unkritische Hommagen an die Theaterfestspiele Reichenau und den Literaturpreis Wartholz, der das Verfahren des Klagenfurter Wettlesen imitiert, ein Modell das immer schon problematisch war, aber dank einer „hochkarätigen Jury“ ein gut vermarktbares Medienspektakel abgibt. Um die Region langfristig wieder in die Literatur – nicht nur kurzfristig in die Feuilletonberichterstattung – einzuschleusen, wäre eine Initiative in Richtung Regionen-Schreiber möglicherweise zielführender gewesen. Vielleicht ist es als Hinweis zu lesen, dass Markus Rieger im Anhang ausschließlich den Organisatoren und Finanziers des Wartholz-Preises dankt.
Auch die vielen perfekt reproduzierten Farbfotos geben ihre Funktion nicht genau zu erkennen, zumindest hätte man sich mitunter einige Erklärungen dazu gewünscht. Teilweise dienen sie der Bebilderung des Textes (Autorenfotos, Hotelaufnahmen etc.), teilweise sind sie eher atmosphärisch vermittelt wie die vielen Bilder von aufgestapelten Stühlen, und teilweise bringen sie Dinge ein, die im Text nicht vorkommen und einen Ortsunkundigen ratlos zurücklassen müssen. So zeigen mehrere Fotos die Lokalbahn Payerbach-Hirschwang, ein dörfliches Nahverkehrsmittel, dessen Realisierung im ersten Anlauf 1881 am Widerstand von Carl Ludwig von Habsburg scheiterte, der hier im Schloss Wartholz seine Ruhe haben wollte. Aus Kriegsraison wurde das Projekt im Ersten Weltkrieg als Materialbahn verwirklicht, 1926 für den Personenverkehr freigegeben und bis Anfang der 1970er Jahre genutzt. Heute wird sie als Museumsbahn betrieben, weshalb sich einige Bauelemente erhalten haben, die nostalgische Motive ergeben.
„Berührende Erinnerungskultur in Reichenau“ ist die Bildunterschrift zu jenem Eisenbahnwaggon, der von der Niederösterreichischen Landesausstellung 2003 stehen geblieben ist und hier als „Kunstprojekt der Festspiele Reichenau“ ausgegeben wird. Als „berührende Erinnerungskultur“ sind von der Ausstellung gleich daneben auch eine Reihe von Betonkoffern zurückgeblieben, von denen jeder den Namen eines Mitglieds der Familie Habsburg trägt. Die sind zweifellos auch ins Exil gegangen, aber doch auch viele der meist jüdischen Villenbesitzer, die anderen aber wurden alle ermordet. Für diese Tatsache gibt es bis heute in ganz Reichenau keine Gedenktafel, kein Monument, nicht einmal einen Hinweis auf der das ganze Ortsgebiet überziehenden Beschilderung der architektonisch schönen, aber eben auch meist arisierten Villen selbst.
Im Buch bleiben die Bilder der Villen namenlos und auch beim Doderer-Denkmal in der Prein hätte man vielleicht ergänzen können, dass es 1983 von Kurt Ingerl geschaffen wurde.
Ergänzend aus Gerechtigkeitssinn vielleicht auch noch zum Begriff ‚Zauberberg‘: Es war der Historiker Wolfgang Kos, der für den Semmering den Begriff ins Spiel brachte. Natürlich kurte Hans Castorp in Davos, aber Kos hat Thomas Manns „Zauberberg“ als Gedankenmodell für Stimmung und Klientel in den hiesigen Grand Hotels am Vorabend des Ersten Weltkriegs verwendet. Dieser Vergleich hat die lokalen Tourismusmanager aufgestört. Unter dem Schlachtruf „Zauberberg Semmering“ werden seit einigen Jahren unermüdlich Marketing Coups ersonnen. Dass Kos von der Gemeinde Semmering oder dem örtliche Tourismusverband das Copyright auf die Formulierung abgegolten wurde, ist wenig wahrscheinlich.