Diese Geschichte stammt aus dem Neuen Testament, wo sie in zwei verschiedenen Fassungen erzählt wird: Kurz und lakonisch bei Matthäus (14,1-12), und etwas dramatischer ausgeschmückt bei Markus (6,14-29). Aber bei allen Unterschieden der Darstellung stimmen beide Evangelisten darin überein, dass Salome nicht selbst auf den Gedanken verfiel, den Kopf des heiligen Mannes zu fordern, sondern dass sie auf Geheiß ihrer rachsüchtigen Mutter gehandelt habe. Deshalb ist die Prinzessin in der biblischen Urform nur eine Nebenfigur des Geschehens. Im Zentrum des Interesses steht der Täufer, also der Wegbereiter Jesu und erste Märtyrer des Christentums.
Dass (und wie) sich diese biblische Sicht geändert hat, zeigt Sandra Walz in ihrer Studie Tänzerin um das Haupt. In einem Durchgang durch die europäische Literatur- und Kunstgeschichte stellt sie dar, wie anhaltend diese kurze Episode die Phantasie der Nachwelt beschäftigt hat. Mittelalterliche Theologen mochten sich zum Beispiel nicht damit abfinden, dass Mutter und Tochter in der Heiligen Schrift für den Mord am Täufer nicht bestraft werden, und sie gaben sich alle Mühe, dieses biblische Versäumnis durch besonders exquisite Bestrafungsvorschläge zu kompensieren. In der Malerei der Renaissance und des Barock gewann das Motiv der Enthauptung eine große Bedeutung. Dabei bildeten sich zwei Varianten der Salome-Ikonographie heraus, wie das farbig illustrierte Buch anschaulich dokumentiert: Dargestellt wurde entweder der Moment, in dem der Henker die Schüssel mit dem Kopf an Salome weitergibt (so etwa auf einem Gemälde von Rubens), oder es wurde die Prinzessin porträtiert – alleine mit dem Haupt des Toten (so unter anderem von Lucas Cranach oder Tizian). Entscheidend für die weitere Entwicklung des Stoffes ist aber, wie Sandra Walz darstellt, dass alle diese Bilder keine abstoßende, hässliche Sünderin darstellen, sondern eine schöne, oder zutreffender gesagt: eine erotisch attraktive Frau. So wurde aus der Nebenfigur der Handlung allmählich die Hauptperson eines neuen Salome-Mythos, der mit der Bibel nur noch wenig gemeinsam hatte.
Die Kombination von Schönheit und Tod entfaltete ihr volles ästhetisches Potential im 19. Jahrhundert. Und damit ist das Hauptthema der Studie von Sandra Walz erreicht: In sehr umsichtigen Werk-Interpretationen erschließt sie die vielen künstlerischen Gestaltungen, die der Salome-Geschichte in der Literatur und Malerei des Fin de siècle zuteil wurden. Um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen: In Bildern und Graphiken von Gustave Moreau, Franz von Stuck und Odilon Redon, aber auch in Texten von Gustave Flaubert, Stéphane Mallarmé, Joris-Karl Huysmans und Oscar Wilde verwandelte sich die biblische Prinzessin in eine Domina, deren Verhalten den Stoff für lustvoll überhitzte Männerphantasien lieferte. Salome erschien als unschuldig-sündhafte Kindfrau, die das Haupt des toten Asketen als Spielzeug benutzt, aber sie konnte auch als raffinierte Verführerin ihres liebestollen Stiefvaters Herodes dargestellt werden, oder als moderne Nervöse, die sich ausgerechnet in den einzigen Mann verliebt, der sie nicht begehrt, und der für diese unverzeihliche Verfehlung mit dem Tod bestraft wird.
Aber wie auch immer nuanciert, in jedem Fall wird Salome als „Femme fatale“ verstanden, wenn nicht gar als das „Rätsel Weib“ schlechthin, an dessen Lösung die Männer der Jahrhundertwende so gerne tragisch gescheitert sind: „Jugend, ihr goldenen Zeiten! / Liebe du brennendes Weh! / Es tanzen durch Ewigkeiten / Die Töchter der Salome“ – so klagte ein vielleicht nicht ganz zu Unrecht vergessener Poet namens Carl Bulcke 1901 in seinem Gedichtband „Die Töchter der Salome“. Sandra Walz zitiert auch diese Verse, weil sie – sehr zu Recht – nicht nur an den anerkannten Gipfelleistungen der Kunst interessiert ist, sondern auch an dem breiten Text- und Bild-Strom, der sich durch England, Frankreich, Italien, Deutschland und Österreich bewegte und eine Fülle (mehr oder weniger trivialer) Salome-Assoziationen mit sich führte. Der Nährboden dafür war die internationale ästhetische Décadence, deren Liebe zur Morbidität dazu beitrug, dass eine biblische Geschichte noch einmal ästhetisch virulent werden konnte, während die moralische Autorität der Bibel schon stark im Schwinden begriffen war. Das gerade erwachende öffentliche Interesse an der neu entstehenden Psychoanalyse lieferte darüber hinaus Schlagworte wie „Eros“ und „Thanatos“, die sich in einer Kunstfigur wie der Salome zu verkörpern schienen.
Zu den vielen Qualitäten dieser Studie gehört die Beobachtung, dass der Tanz, der in der Bibel nur beiläufig erwähnt wird, ins Zentrum der spätzeitlichen Aufmerksamkeit rückt: In der wortlosen rhythmischen Bewegung kulminieren alle verführerischen Möglichkeiten der Salome-Figur. So erklärt es sich, dass sie in den Bildern der Jahrhundertwende – im Unterschied zu älteren Darstellungen – meist lasziv tanzend dargestellt wird, wobei sie zuweilen den Kopf des Jochanaan als besonders verruchtes Accessoire mit sich führen darf. Und so erklärt sich wohl auch, dass der junge Richard Strauss diesen Stoff aufgriff, um dem Musiktheater nach Wagner neue Impulse zu geben. „Salome“, sein 1905 uraufgeführtes „Musik-Drama“, komponiert nach dem Theaterstück von Oscar Wilde, war damals ein sensationeller Skandal-Erfolg, und es behauptet sich bis heute auf den Spielplänen der Opernhäuser. Der Logik des bisher Gesagten entspricht es, dass im Zentrum dieses Einakters ein elaboriertes Instrumentalstück steht, das Salomes stummen „Tanz der sieben Schleier“ begleitet. (Zum immerwährenden Umgang mit diesem Mythos gehört, wie Walz ausführt, der Versuch, die Verhüllte zu entschleiern, wobei freilich nichts anderes ans Licht kommt als ein neuer Schleier – die „wahre“ Salome ist nirgendwo zu finden, und auch Sandra Walz sucht sie nicht. Sie stellt vielmehr die chimärische Kunstfigur in der Vielgestalt der unterschiedlichen Deutungen und Überlieferungen dar. Auch das gehört zu den Stärken ihrer Arbeit.)
Neben Strauss‘ Oper (samt Wildes Text) haben sich allenfalls Flauberts Erzählung „Hérodias“, Mallarmés Versfragment „Herodiade“ und die Salome-Passagen aus Joris-Karl Huysmans‘ Roman „Á Rebours“ im Gedächtnis der Nachwelt erhalten. All die anderen Salome-Bearbeitungen der Jahrhundertwende sind nur noch von kulturhistorischem Interesse. Die Autorin weist am Ende ihrer Studie darauf hin, dass die Salome-Inflation auch den Spott mancher Zeitgenossen hervorrief, mithin früh schon ein Objekt satirischer oder parodistischer Verulkung gewesen ist. Und doch ist die Prinzessin nicht tot. Im Nachwort ihres Buches schreibt Sandra Walz: „Salome hat sich also in ihrer nun zweitausendjährigen Geschichte in unendlichen Metamorphosen gewandelt, so dass sie heute zu einem regelrechten Markenzeichen für schlüpfrige Unterhaltung verkommen ist. Recherchiert man unter dem Namen ‚Salome‘ beispielsweise im Internet, der weltweiten Plattform, wenn es um Klischeeverbreitung geht, finden sich auf abertausend Seiten halbnackte orientalische ‚Schönheiten‘, die unter diesem Namen für ihre Dienste entweder als Tänzerin oder als Prostituierte werben.“ (S. 579). Diese Pornographisierung des Mythos ist nun nicht ganz so neu, wie das Medium Internet glauben macht. Schon im 18. Jahrhundert kursierten obszöne Mythen-Travestien in Wort und Bild, und die Salome-Adaptionen des Fin de Siècle enthalten bei aller angestrebten Vornehmheit des Tons auch manches Schlüpfrige. Und doch trifft zu, dass die erotischen Imagines der mythischen Überlieferung im heutigen Sex-Business eine wenig subtile Rolle spielen. Das gilt nicht nur für Salome. Wer etwa den Namen „Venus“ in die allmächtige Suchmaschine eingibt, wird auf Eintragungen wie „Pornostars zum Anfassen“ verwiesen. Doch so lange noch material- und gedankenreiche Bücher wie „Tänzerin um das Haupt“ entstehen, gibt es keinen Grund, den Porno-Schrott der virtuellen Welt als unwiderruflichen Endpunkt einer Jahrtausende langen „Arbeit am Mythos“ aufzufassen.