Zwei kritische Anmerkungen zu dem insgesamt sehr gelungenen Sammelband kann ich allerdings nicht unterlassen. Er enthält zwar am Ende (S. 230f.) Angaben zur Systematik der Aufstellung der Artmann’schen Bibliothek – dass man die teils regelhafte, teils regellose Anordnung der Bücher in der Wohnung des Autors (S. 15f.) nicht übernehmen konnte, leuchtet ein – , doch fehlt eine auch nur grobe Übersicht über die Bücher, die Artmann besessen hat; und die Frage nach den Verlusten – nach verschenkten, vergessenen, verliehenen und nicht zurück gegebenen, verkauften Büchern – wird zwar in einzelnen Beiträgen angedeutet (z. B. S. 17 über von Artmann versetzte Bücher, S. 201f. über die nicht mehr vorhandene „Riesensammlung von Comics“), aber nie zusammenhängend erörtert. Von den „Arbeitsspuren und Marginalien“ (S. 15) in den Büchern ist zwar die Rede; Einzelheiten darüber erfährt man nicht, auch nicht exemplarisch (vgl. aber immerhin Abbildungen u. a. auf S. 31, 60, 66, 145). Da es der Ausstellung wie dem Buch gerade um die Lebendigkeit dieser Büchersammlung geht, mit welcher der Dichter gearbeitet hat, fehlen wichtige Aspekte. Die Lücken sind wohl damit entschuldbar, dass den Mitarbeitern der Wienbibliothek für die Redaktion des Buchs nicht viel Zeit zur Verfügung gestanden ist; bedauerlich sind sie trotzdem.
Das, was im Buch steht, verdient mit wenigen Ausnahmen großes Lob. Die Mehrheit der Beiträge ist aus wissenschaftlicher Distanz, einige sind aus persönlicher Nähe zum Dichter geschrieben. Aus der zweiten Gruppe (zu der Artmann-Erinnerungen von Jean-Paul Jacobs und Peter Rosei gehören) möchte ich den von Barbara Wehr hervor heben, in dem es im engsten Sinn um Artmann und seine Bücher geht, um konkret erfahrene Beispiele für den „unglaublich weiten Horizont seiner Lese-Interessen“ (S. 122), um Lieblingsbuchhandlungen usw. (Auf S. 122 steht übrigens einer der wenigen Druckfehler in dem sorgfältig redigierten Band: „Im sommer 1935“ ist als Ganzes, unter Einschluss der Jahreszahl, ein Titel.)
Der attraktivste Abschnitt des Buches sind die 21 Beispiele aus „Artmanns Bücherwelt“ (S. 23-117). Atze und Böhm stellen aus irgendwelchen Gründen besonders attraktive Bände aus den Regalen des Dichters vor: ihn anregende Werke (z. B. Ramón Gómez de la Serna) einschließlich mancher Kuriosa; ein Skizzenbuch von Markus Vallazza mit ladinischer Widmung und andere interessante Widmungsexemplare; eine italienische Grammatik von 1721, die Artmann für seine Goldoni-Übersetzungen herangezogen hat; eine 1937 angeschaffte Grammatik der Sprachen des heutigen Namibia; ein Wiener Dialekt-Lexikon; eine billige englische Ausgabe von Bram Stokers „Dracula“ … Die, dem Geist des Vorbesitzers der Bücher gemäß, mehr das Anekdotische als das Systematische beachtenden Erläuterungen sprechen von Besonderheiten der Bücher, von Merkmalen der ausgestellten Exemplare und immer wieder von ihrem biografischen und literarischen Zusammenhang – ein wahres Lesevergnügen für Liebhaber von Büchern.
Marcel Atzes Beitrag über Artmanns „Funde“ berichtet unter anderem über „prominente Provenienzen“ in dieser Bibliothek (so war etwa Canetti Vorbesitzer eines Werks). Johannes Birgfeld stellt Artmann als Rezipienten von Barockliteratur vor; besonders interessant sind seine Überlegungen über einen ‚falschen‘ Buchumschlag (S. 155f.). Methodisch exemplarisch sind Stefan Alkers Ausführungen zu Widmungsexemplaren in Artmanns Besitz; wer ihm Bücher gewidmet hat ist so bemerkenswert wie der Text der (vielfach abgebildeten) Widmungen. Man erfährt etwas über Artmann als Lovecraft-Übersetzer (und über begründete Zweifel an seinen Englisch-Kenntnissen) und erhält schließlich ausführliche Informationen über sein Verhältnis zu Comics, insbesondere zu Donald Duck – in einem Aufsatz von Stefan Winterstein, der mir manchmal zur Überinterpretation zu neigen scheint. Eine nützliche Chronik zu H. C.Artmanns Leben beschließt das Buch. (Zu S. 223: An die angeblich aus dem „Dritten Mann“ herausgeschnittene Frage „Was halten Sie von James Joyce?“ kann ich mich sehr wohl erinnern – wiewohl ich als ihren Sprecher H. C.Artmann nicht erkannt habe.)
Bemerkenswert sind die Abbildungen, einerseits von und zu Artmann, andererseits von seinen Büchern; manche Bilder von diesen sind eine wahre Freude.
Das eindringlichste Bild steht am Beginn (S. 8): ein halb zerfetztes spanisch-deutsches Wörterbuch, das die den Soldaten Artmann treffende russische Kugel abgebremst und dem Freund der Sprachen das Leben gerettet hat.
Wer Bücher liebt, wird gerne in diesem Buch blättern und lesen. Wer sich für H. C.Artmann, diesen Giganten der Literatur aus Österreich interessiert, muss dieses bis in die Anmerkungen hinein aufschlussreiche Buch kennen. Die Wienbibliothek hat sich durch den Ankauf und die Aufstellung der Artmann’schen Bücher wie durch diese (auch wegen ihres methodischen Ansatzes bemerkenswerte) Veröffentlichung ein großes Verdienst um die Erforschung der Literatur Österreichs erworben.