Die hier gesammelten Feuilletons aus einer ‚Besatzerzeitung‘ des Ersten Weltkriegs legen eine Revision des Urteils über Alscher nahe.
Die Belgrader Nachrichten, die in deutscher, ungarischer und serbischer Sprache erschienen, wurden nach der Eroberung der serbischen Hauptstadt durch österreichisch-ungarische und deutsche Truppen (Oktober 1915) gegründet und im Oktober 1918 eingestellt. Zu ihren Mitarbeitern (1915/16) gehörte Robert Müller, Chefredakteur war Rilkes Briefpartner Franz Xaver Kappus. Die Front-Zeitung wendete sich offenbar nicht nur an Soldaten, sondern auch an das serbische Bildungsbürgertum. Leider gibt das Nachwort nur wenig Auskunft über das Medium und über die Stellung der feuilletonistischen Beiträge in ihm.
Alscher verfasste für das Blatt etwa 70 eindeutig ihm zuzuschreibende, in der Regel sehr kurze, kaum mehr als eine Buchseite füllende Feuilletons; doch wurde diese Rubrik auch von anderen (nicht identifizierten) Mitarbeitern gefüllt, deren Beiträge als Kotext zu Alscher in diesem Buch ebenfalls Aufnahme gefunden haben. (Ob Alscher auch für andere Ressorts der Zeitung geschrieben hat, wird im Nachwort nicht erörtert.) Wir lernen in diesen Feuilletons einen Autor mit Sinn für das Detail kennen, dessen Beobachtungen von Einzelheiten stets weitere Perspektiven auf die Welt eröffnen, in der er und seine Leser leben. „Die Uhren“ (29ff.) etwa geht von stehen gebliebenen öffentlichen Uhren im teilweise kriegszerstörten Belgrad aus, vom Gegensatz zwischen pulsierendem Leben und Stillstand. Die einzige funktionstüchtige Uhr scheint sich am Gebäude der Militärverwaltung (?) – man vermisst hier wie öfter einen Kommentar – zu befinden, in dem der „zielbewusste Wille eines starken Landes über ein Land“ wirkt, „das nicht verkümmern darf, sondern weiterleben soll für sich und seine einstige Zukunft.“ Hier ist die symbolische Deutung des Beobachteten aufdringlicher als sonst; die Stelle ist auch deshalb ein Sonderfall, weil sie von der Besatzungsmacht spricht und deren Wirken positiv deutet. (Wie denn auch sonst?)
Kein Sonderfall hingegen ist sie in dem Wunsch, dass Serbien „weiterleben soll für sich und seine einstige Zukunft.“ Denn in fast allen diesen Feuilletons – nur wenige haben andere Themen – geht Alscher auf Besonderheiten Serbiens ein, so gut wie immer mit Sympathie, während er sich zumindest an einer Stelle (78f.) über die Rumänen sehr abfällig äußert. Selbst wo er („Tand“, 42f.) aus dem genau beschriebenen Sortiment kleiner Belgrader Kramläden auf das „Zivilisationsniveau“ Serbiens schließt, vergleicht er, keineswegs abwertend, die „heftig und überstürzt pulsierende Kulturentwicklung Serbiens“ mit dem liebenswürdigen Spiel von Kindern. An manchen Stellen erscheint das scheinbar besiegte „Naturvolk, das unter dem Reichtum des Lebens die Übersicht noch nicht verloren hat“ (82) den westlichen Besatzern geradezu überlegen, etwa der serbische Gastwirt, über dessen schlechte Bedienung ein des Landesbrauchs unkundiger Soldat aus Wien – das Klischeebild des Wieners gelingt Alscher hier auf recht witzige Weise – schimpft: „Denn in Serbien bleibt der Gast in jedem Lokal der Herr und wird nicht zum Ausbeutungsobjekt, früher freilich noch mehr als jetzt.“ („Serbische Gasthaussitten“, 123)
Solchen Respekt vor Serbien und den Serben hätte man zur Zeit und am Ort des Erscheinens dieser Skizzen so wenig erwartet wie das Bemühen, Verständnis für serbische Traditionen zu wecken. Das durch eingestreute Belgrader Straßennamen und immer wieder vorkommende serbokroatische Wörter unterstrichene gleichsam ethnografische Interesse Alschers an einer ihm aufgrund seiner Herkunft nicht ganz unvertrauten Kultur ist an keiner Stelle vom Hochmut des Überlegenen geprägt. Es verbindet sich mit gelungenen Beschreibungen und Evokationen von Landschaften und Orten. Ein Kabinettstück etwa ist „Die Nasen“ (106f.), die Wiedergabe der „Physiognomie“ einer Wein-Stadt.
Es macht Alscher Ehre, dass an einzelnen Stellen (12f., 39f.) auch die Schrecken des Kriegs als Schrecken in den Blick kommen – trotz einem gelegentlichen, 1917 wohl unabweisbaren „heldenmütig“ (39). Heroisches Pathos ist in seinen Miniaturen selten. Die von anderen Verfassern stammenden Feuilletons aus den Belgrader Nachrichten, die der Herausgeber in den Band aufgenommen hat, unterscheiden sich im Gedanklichen und in der Anlage nicht sehr von denen Alschers; nur: dieser schreibt besser. „Die Uhr“ von einem unbekannten Autor (278ff.) hat das gleiche Motiv wie die oben vorgestellte Skizze; der Qualitätsunterschied ist frappant.
Die Lektüre dieser Skizzen bereitet Vergnügen, zudem gestatten sie einen neuen Blick auf die Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, zumal auf das Serbenbild der Österreicher (das weit weniger von Verachtung des ‚Feinds‘ bestimmt gewesen zu scheint als etwa das Bild der Italiener). Auch über Kultur und Geschichte Serbiens erfährt man manches; in seinem von Sympathie getragenen Verständnis für das Land ist Alscher geradezu ein Vorgänger Handkes. Das Erscheinen in einer Buchreihe des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas erinnert bei diesem Band mehr als bei anderen daran, wie viel Deutsche aus diesem Raum (also Altösterreicher und deren Nachkommen) zum Verständnis der anderen Nationen Mittel- und Südosteuropas beizutragen vermögen.
Dass die Edition nicht alle Wünsche erfüllt, wurde schon angedeutet. Vor allem ist das Nachwort zu sehr für rumäniendeutsche Leser geschrieben, die mehr über Alscher wissen mögen als der durchschnittliche Bundesdeutsche oder Österreicher und daher vielleicht mehr Interesse an ihn betreffenden Details haben. Über die Auswahl aus dem Material geht der Vorbericht des Herausgebers (6) allzu schnell hinweg und Franz Heinz hat nicht bedacht dass jemand diese Feuilletons lesen könnte, der Belgrad nicht kennt, mit anderen Worten: An vielen Stellen fehlen kommentierende Worte. Der Band wird nicht eine Alscher-Renaissance einleiten, aber er ermöglicht die Bekanntschaft mit einem zu wenig bekannten altösterreichischen Autor, und wenn das Buch nicht die Literaturgeschichte Österreichs bereichert, so doch ganz gewiss die Geschichte des so oft unterschätzten Feuilletons, in der Alscher ein Platz als Meister des Reisefeuilletons in Zeiten des Krieges zukommt.