#Sachbuch

Expressionismus

Wilhelm Große

// Rezension von Harald Klauhs

Im März 1936, vor mehr als 70 Jahren, wurde in München die erste Ausstellung zur „Entarteten Kunst“ eröffnet. Sie war – wie der Untertitel verhieß – eine Schau von „kulturdokumenten des bolschewismus und jüdischer zersetzungsarbeit“. Unter den von den Nazis verfemten Künstlern war auch der Österreicher Oskar Kokoschka, dessen 1908 erschienenes Märchenbuch „Die träumenden Knaben“ den Expressionismus mitbegründet hat. Dieses Werk ist für die Stilrichtung des Expressionismus insofern exemplarisch, als es sowohl ein „Bericht über meinen damaligen Seelenzustand“ ist, wie Kokoschka selbst darüber sagte, als auch eine freie Bilddichtung und damit kunstübergreifend. Denn ein Spezifikum des Expressionismus ist, dass er sämtliche Künste erfasste. Als „entartet“ galten den Nazis nicht nur Werke der Malerei, sondern auch der Dichtung und der Musik.

Eine Folge dieser nazistischen Verfemung war, dass die Kunst des „expressionistischen Jahrzehnts“, das üblicherweise von 1910 bis 1920 angesetzt wird, auch nach dem Zweiten Weltkrieg verschüttet blieb. Viele Künstler, die durch Berufsverbot, Emigration oder Ermordung aus dem Gedächtnis gelöscht oder deren Werke konfisziert worden waren, blieben auch nach 1945 vergessen. Es bedurfte Männern wie Andreas Hüneke für die Malerei oder Paul Raabe für die Literatur, die sich nach dem Dritten Reich auf die Suche nach verschollenen Kunstwerken dieser Epoche machten. Erst in den 1960er-Jahren wurde der Expressionismus wiederentdeckt und es fanden die ersten Ausstellungen statt.

Diese Rezeptionsgeschichte kommt in Wilhelm Großes Einführungsband zum „Literaturwissen Expressionismus“ etwas zu kurz. Sie ist aber für das Verständnis dessen, welchen Einfluss diese Kunstrichtung auf die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts hatte, nicht unwichtig. Gut herausgearbeitet in dem Bändchen innerhalb der Reclamschen „Universal-Bibliothek“ ist dagegen die Stimmung, aus der heraus eine antibürgerliche Bewegung wie der Expressionismus entstanden ist. Der Beginn des 20. Jahrhunderts muss in Mitteleuropa eine bleierne Zeit gewesen sein. „Auf langen Krücken schief herabgebückt / Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme. / Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt. / Ein Pferdchen stolpert über eine Dame“, lautet die zweite Strophe von Alfred Lichtensteins Gedicht „Die Dämmerung“. Es zeigt vielleicht noch besser als die berühmten Verse Jakob van Hoddis‘ über das „Weltende“ die Atmosphäre, aus der heraus eine heterogene Bewegung wie der Expressionismus entstanden ist – schließlich gibt es eine Abend- und eine Morgendämmerung. Das Gros der expressionistischen Autoren wähnte sich am Abend des Abendlandes und ersehnte einen neuen Morgen. Dass in Großes vor allem für Schüler geschriebenem Bändchen van Hoddis‘ Gedicht und nicht jenes nur von Kennern als Signum der Epoche eingeschätzte Gedicht Lichtensteins zitiert wird, ist trotzdem richtig, weil ersteres für die Rezeptionsgeschichte doch eine größere Bedeutung hat als Lichtensteins Lyrik.

Wie die Bedeutung damals eingeschätzt wurde, ist allerdings schon viel schwerer zu beurteilen. Warum hat zum Beispiel Kurt Pinthus seine 1919/1920 erschienene Gedichtanthologie zum Expressionismus, die im Nachhinein als Zusammenfassung der expressionistischen Lyrik des Jahrzehnts betrachtet werden kann, „Menschheitsdämmerung“ genannt? Darin finden sich 24 Autoren, von Johannes R. Becher bis Paul Zech, die prägend für das Jahrzehnt waren. In Großes Reclam-Bändchen werden elf Literaten ausführlicher beschrieben, wobei die Auswahl des Germanisten alle literarischen Gattungen zu berücksichtigen hatte. Deshalb werden hier auch die Dramatiker Ernst Barlach, Georg Kaiser, Carl Sternheim und Ernst Toller genannt, die in Pinthus‘ Anthologie nicht enthalten sind. Sicher gab es auch eine expressionistische Prosa, doch diese ist erstens am schwersten zu definieren, und zweitens wird sie dort, wo sie Eingang in die Literaturgeschichten gefunden hat, kaum als expressionistisch wahrgenommen: etwa Alfred Döblins Jahrhundertroman „Berlin Alexanderplatz“. Die verschiedenen Motive, welche die Expressionisten verbanden, vom „Vatermord“ bis zum „neuen Menschen“, werden im vorliegenden Band gleich nach der Begriffsdefinition zu Beginn entfaltet. Dort findet man auch die wichtigsten Publikationsorgane der Expressionisten aufgelistet, von Franz Pfemferts „Aktion“ bis zu Herwarth Waldens Zeitschrift „Sturm“.

Wer sich einen ersten kompakten Überblick verschaffen will, ist mit Wilhelm Großes Band durchaus gut bedient. Wer sich allerdings fragt, worin die Problematik der Stilrichtung liegt, warum heute kaum mehr expressionistische Stücke aufgeführt werden und wieso die Expressionisten sich nach dem Krieg in rechte und linke spalteten, der wird sich in die am Ende angegebene Literatur vertiefen müssen. Insbesondere österreichische Schülerinnen und Schülern, die wissen wollen, welche Bedeutung der Expressionismus im zerfallenden Habsburgerreich spielte und wer die wichtigsten heimischen Autoren waren, werden zu weiterführender Lektüre greifen müssen.

Wilhelm Große Expressionismus
Literaturwissen für Schüler.
Stuttgart: Reclam, 2007 (Reclams Universal Bibliothek. 15229).
125 S.; brosch.
ISBN 978-3-15-015229-4.

Rezension vom 09.10.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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