Johann Dvorák interveniert in dieser laufenden Debatte um die Bewertung dieser widersprüchlichen Periode mit einer thematisch breit angelegten Studie, die sich nicht auf Wien beschränkt, sondern auch die Situation in Triest und die häufig ignorierten Interventionen tschechischer Intellektueller in den Wiener Streit um die Moderne berücksichtigt. Bahr, Freud, Herzl, Hofmannsthal, Kelsen, Kraus, Musil, Schnitzler, Zilsel und andere werden in monographischen Aufsätzen als exemplarische Denkexistenzen vorgeführt; ein wichtiges Kapitel verweist auf die Bedeutung des heute fast vergessenen Paul Stefan als „Chronist der Lage der fortschrittlichen Intelligenz im Wien der Jahrhundertwende“.
Das „Projekt der Moderne“ ist bei Dvorak als eine Verbindung einer „Kultur des Buches“ mit einer „Kultur der Arbeit“ gedacht, die sich nur nur „in einer Gesellschaft des Wohlstands und Glücks für alle“ verwirklichen könne. Rationales Denken und Handeln, wissenschaftliche Weltauffassung, bewußte und autonome Lebensgestaltung sind tragende Elemente dieser Synthese, die die Moderne als Verwirklichung der Aufklärung und der Entwicklungsperspektive der klassischen deutschen Philosophie denkt. Das ist letztlich eine ein wenig normative Begrifflichkeit, die das Hoffnungspotential gewisser Gruppen als Maßstab nimmt und ignoriert, daß diese Hoffnungen, ja Illusionen zahllose „Enttäuschungen“ provoziert haben, die in sich zur Kulturgeschichte unseres Jahrhunderts gehören. Auf dem analytischen Feld führt diese normative Sichtweise zu einem „Schwarz-Weiß-Bild“. Daß einer gegen den Habsburg-Mythos anschreibt, ist wohl legitim und Dvorak weist in der Nachfolge Friedrich Heers zu Recht darauf hin, daß die kultivierende Rolle der Habsburger überschattet wird von dem bis heute nachwirkenden, kollektiv traumatisierenden Ereignis der brutalen Re-Katholisierung Österreichs im Zuge der Gegenreformation. Doch gleichzeitig wird hier wieder einmal die These von einem österreichischen „Sonderweg“ in die Moderne propagiert: die Behauptung von einer konsequent verzögerten Industriealisierung, die ein generell reaktionäres Klima geschaffen hat, gegen das nur eine heroisierte Minorität opponiert hat. Sicher gelingen auf der Basis dieser Annahme einige überraschende Deutungen: daß der impressionistische Kult um den Augenblick und der Kampf des selbsternannten Propheten der Moderne, Hermann Bahr, gegen die Präsenz der Vergangenheit auch als Konzept zur Tilgung der Erinnerung an vollendete oder unvollendete Revolutionen gesehen werden kann, überzeugt. Bahrs Verdienste um die Propagierung der Moderne sind dennoch unbetreitbar – die Etikettierung als Repräsentanten einer „modischen und antimodernistischen Moderne“ wird seinem nachwirkenden Einfluß nicht gerecht.
Unter den Tisch fällt auch, daß die gescholtene franziskojosephinische Periode ein international vorbildlicher Rechtsstaat war, daß der österreichische Liberalismus – der in dem Buch kaum vorkommt – trotz der Aufgabe seiner ursprünglichen Ziele als erfolgreiche Modernisierungsagentur gewirkt hat und vor allem, daß es die reinliche Scheidung in Reaktion und Fortschritt nicht gegeben hat. Der intellektuelle Ausgangspunkt etwa Victor Adlers waren Nietzsche, Schopenhauer und Wagner; umgekehrt finden wir Spuren einer wissenschaftlichen (naturwissenschaftlich – darwinistischen) Weltauffassung auch bei Vertretern der ästhetischen Moderne, das hat Werner Michler jüngst in einer fundamentalen Publikation gezeigt. Dvorák setzt in mehreren Fällen das undifferenzierte Selbstbild seiner Protagonisten absolut. Auch Freud hatte seine – häufig verleugnete – „irrationale Seite“ und daß er das Ausmaß der Widerstände gegen seine Lehren als „Privatmythos“ übertrieben hat, ist seit Sulloway allgemein bekannt und jüngst durch die Arbeit von Tichy / Zwettler-Otte über die Rezeption der Psychoanalyse in der Presse neuerlich bekräftigt worden. Die wichtige Aufarbeitung rassistischer Konzeptionen in Wien ignoriert, daß Houston Stewart Chamberlain in durchaus moderner Weise (und im Gegensatz zum Dictum des Jörg Lanz von Liebenfels, daß man aus der Rasse nicht austreten könne) den Juden die Möglichkeit zur „Wahl“ und zum „Aufstieg“ eingeräumt hat – ein Gedanke, der Karl Kraus beeindruckt zu haben scheint. Misogynie und Antisemitismus Weiningers sind unbestreitbar, doch Dvoráks Verurteilung ignoriert, daß Weininger den Menschen als bisexuell angelegt dachte, zusammengesetzt aus einem Anteil „M“ und einem „W“ und daß sich die verächtlichen Bemerkungen dort, wo Weininger „denkt“ und nicht „geifert“, zunächst gegen dieses Prinzip „W“ richten. Auch diese Überlegungen fanden keineswegs nur auf der reaktionären Seite Anklang, sondern reichten über Karl Kraus bis hinauf in die zeitgenössische Literatur und die Populärkultur mit ihrer Propagierung der Androgyne. Man wird der Moderne wohl eher gerecht, wenn man ihre Leistungen und ihre Katastrophen in einem wesensmäßigen Zusammenhang sieht.