Der österreichische Literaturwissenschaftler Klaus Zeyringer unterrichtet seit Jahren in Frankreich, an der Université Catholique de l’Ouest in Angers. Im Unterschied zu seinen daheim gebliebenen Fachkollegen hätte er also die Chance, die österreichische Kultur aus der Distanz zu betrachten, die ein Leben in einem anderen Land mit sich bringt. Doch macht Zeyringers neuestes Buch keinen Gebrauch von diesem „Fremdvorteil“ (um die Analogiebildung zum sattsam bekannten „Heimvorteil“ einmal ins Spiel zu bringen). Zeyringers Informationen, Interpretationen und Analysen verdanken sich allesamt einer dezidierten Insider-Perspektive, was sich am sinnfälligsten daran erkennen lässt, dass das Buch zwar ein lesenswertes Kapitel über das „Frankreich-Bild der österreichischen Literatur“ enthält, aber keines über die Österreich-Bilder Frankreichs. Die „Auslandsgermanisten“ werden von Zeyringer zwar als potenzielle Leser seines Buches ins Auge gefasst, doch besagt das nicht, dass der Autor sich selbst auch als „Auslandsgermanist“ verstünde. Er bewegt sich – mit seinem eigenen Wort gesagt – „mittendrin“ in den innerösterreichischen Literaturverhältnissen. Diese Position prägt das Buch im Ganzen wie in den Details.
Wer aber mit dem „mittendrin“ so programmatisch einverstanden ist, will und darf sich auch enagiert in laufende Debatten einmischen. Als ob zwischen einem Literaturwissenschaftler und einem Literaturkritiker keinerlei Unterschied bestehen könnte, ergreift Zeyringer entschlossen Partei: Er steht auf der Seite jener spezifisch österreichischen Moderne, die als Allianz aus kritischer und avantgardistischer Literatur zustande kam und in der „Grazer Autorenversammlung“ ihr organisatorisches Zentrum fand. Aller Literatur, die sich dieser Strömung im weitesten Sinn zuordnen lässt, gehört Zeyringers Sympathie. Und was wichtiger ist: Von dieser Literatur aus ordnet er sein Material. Mit ihr verglichen, können die konservativen Autoren der fünfziger Jahre – namentlich etwa Max Mell – als prämodern und rückständig gekennzeichnet werden, während die postmodernen, nicht-mehr-experimentellen Erzähler neuesten Datums des Rückfalls in bereits überwundene literarische Verfahren bezichtigt werden können. So finden die Bücher Josef Haslingers oder Michael Köhlmeiers keine Gnade, und als schlimmster von allen tritt Robert Schneider auf, der unter dem Titel „Kitsches Bruder“ abgehandelt wird. Dass gerade diese Autoren (in Österreich und anderswo) Publikumserfolge erzielen, von denen die meisten Repräsentanten der GAV-Moderne nur träumen können, nimmt Zeyringer zur Kenntnis, weigert sich aber, die Massenwirksamkeit eines Buches auch nur im entferntesten als literarische Qualität gelten zu lassen. Auch damit steht er an der Seite all der Autorinnen und Autoren, die sich dem Projekt einer komplexen, ungefälligen Moderne verpflichtet fühlen.
Einem distanzierteren Beobachter stellt sich allerdings die Frage, ob diese späte Moderne tatsächlich noch als „Gegenwartsliteratur“ bezeichnet werden kann. Manches deutet (in Österreich, aber anderswo erst recht) darauf hin, dass alles, was vor noch nicht allzu langer Zeit zur „Avantgarde“ gezählt wurde, heute der Nachhut angehört. Zwar kann Klaus Zeyringer mit einer Fülle von Beispielen belegen, dass es (vielleicht auch anderswo, aber auf jeden Fall in Österreich) zur Zeit noch eine dezidiert experimentelle und anspruchsvolle Literatur gibt. Wie lange noch – das muss sich zeigen.
Die Position des engagierten „mittendrin“ ermöglicht dem Autor also einen klaren literaturkritischen Standpunkt, hat aber auch eine methodologische Implikation: Wie viele österreichische Germanisten möchte auch Zeyringer die allzu handlichen Synthesen vermeiden, von deren Erkenntniswert er nicht überzeugt ist. Wenn Claudio Magris mit dem Schlagwort vom „habsburgischen Mythos“ oder Ulrich Greiner mit dem anderen vom „Tod des Nachsommers“ versuchen, die österreichischen Literatur (von außen) auf einen Begriff zu bringen, erregen sie Zeyringers Widerspruch. Wie vor ihm z.B. schon Walter Weiss, sieht er in solchen Schlagworten vor allem eine unzulässige Reduktion der Vielfalt. Um eben diese zu erhalten, verzichtet er auf ähnlich suggestive Etiketten und begnügt sich (von innen) mit „Überblicken“, „Einschnitten“ und „Wegmarken“. In unmetaphorischer Rede ausgedrückt bedeutet das: Klaus Zeyringer setzt sich mit unterschiedlichsten – darunter auch unbekannten – Texte auseinander, was sein Buch zu einem äußerst nützlichen Führer durch die österreichische Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden lässt. Dass er die präsentierte Textfülle vor dem einleitend rekonstruierten historischen Kontext der zweiten Republik begreift, versteht sich bei einer österreichischen Literaturgeschichte neuesten Datums von selbst.
Dass dies nicht immer so selbstverständlich war, weiß auch Klaus Zeyringer. Ausführlich referiert er die Debatten und Querelen um die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur. Doch steht für ihn selbst außer Frage, dass es eine genuin österreichische Literatur gibt. Sie entspringt, wie er mehrmals darlegt, nicht etwa den ewigen Urgründen des österreichischen Wesens, sondern antwortet auf die multikulturellen Einflüsse des „Kulturraums“, dessen Besonderheiten Zeyringer mit Mitteln der Sozialgeschichte beschreibt und analysiert.
Nun ist hierzulande nirgends mehr strittig, dass die österreichische Literatur unter eigenen Bedingungen und Voraussetzungen zustande kommt. In Deutschland stößt diese Erkenntnis jedoch nach wie vor auf Unverständnis, wenn nicht gar auf Widerstand. Zeyringer geht darauf ein, und er tut auch dies mit polemischer Verve. All die deutschen Kritiker und Wissenschaftler, die von der Existenz einer eigenständigen österreichischen Literatur nichts wissen oder nichts wissen wollen, werden einer scharfen Ideologiekritik unterzogen. Zeyringer hält die deutsche Ignoranz nämlich nicht für eine mehr oder weniger harmlose Uninformiertheit, sondern für machtpolitische Absicht. Eine autonome österreichische Kultur, so meint er, liege nicht im Interesse der deutschen „Diskurs-Polizisten“ oder „Gate-Keepers“. Genau deshalb müsse sich eine spezifisch österreichische Literaturwissenschaft herausbilden, die all das in sich aufnehme, was deutschen Interessen, Kriterien und Methoden nicht entspreche. Keine Frage, dass Klaus Zeyringers Handbuch ein gewichtiger Beitrag zu dieser österreich-spezifischen Germanistik ist.
Wenn man sich trotzdem etwas wünschen darf, dann dies: Zeyringer – oder ein anderer österreichischer „Auslandsgermanist“ – möge die detaillierten Blicke „von innen“ einmal durch distanzierte Blicke „von außen“ konterkarieren. Dann könnte man sich nämlich über die Rolle der österreichischen Literatur im Gesamtensemble der europäischen Künste die Klarheit verschaffen, die von der innerösterreichischen Perspektive alleine nicht zu erwarten ist. Eine Gefahr ist freilich dabei: dass ein solcher Zugang „von außen“ den Beifall der derzeit so überaus selbstbezogenen literarischen Öffentlichkeit Österreichs finden wird, kann nicht garantiert werden.