Man muß nicht unbedingt so streng wie der Erzähler in Bernhards Auslöschung sein, aber es ist natürlich klar, daß man etwa Rilkes Duineser Elegien, abgesehen von einigen Realpartikeln vielleicht, nicht besser verstehen kann, wenn man den „Rilke-Weg“ zwischen Sistiana und Duino entlanggegangen ist. Aber es ist zum einen evident, daß dieser Weg hoch über dem Meer einfach ein wunderschöner Spaziergang ist, den man ohne den Umweg über Rilke höchstwahrscheinlich nie kennengelernt hätte, und zum anderen könnte die topographische Annährung an eine Lebensstation des Autors Impuls sein, sich auch mit seinem Werk auseinanderzusetzen.
Die Herausgeber der Salzburger Literatouren wollen denn auch mit ihren 16 Spaziergängen keinesfalls zum Verständnis der Texte beitragen, es geht vielmehr um Atmosphärisches („Stimmung eines Ortes“). Eine Koppelung der Literatur an den Ort postulieren sie allerdings sehr wohl: den Beiträgen „gemeinsam ist … die Verbindung von Orten und Menschen mit Worten, mit Literatur“. Darüber hinaus geht es ihnen auch schlichtweg um Touristisches („erschließen sich neue Wege, zeigen sich ungewöhnliche Ansichten“). Das Wissen um die Grenzen eines solchen „Aufsuchens“ und der Gebrauchs- und Servicecharakter machen dieses Unternehmen sympathisch.
Daß die Spaziergänge auch „funktionieren“, ist garantiert, dem Buch liegen vom Salzburger Literaturhaus in den letzten Jahren veranstaltete Exkursionen zugrunde. Und das Buch ist eindeutig als Handbuch, als Reisevorbereitung und Reisebegleiter gedacht, man kann darin etwa erfahren, mit welcher Buslinie man zur Park & Ride-Anlage in der Alpensiedlung Süd kommt und wo in Salzburg man sich Fahrräder ausleihen kann (die „Spaziergänge“ sind nämlich teilweise auch als Radausflüge gedacht). Durch diese strikte Praxisausrichtung (endlich einmal gut lesbare Karten in einem literarischen Reiseführer!) unterscheidet sich dieses Unternehmen von den bisherigen „Literatouren“ durch Salzburg (Sommer 1989, Haslinger 1993, Higgs/Straub 1999).
Die Gestalter haben sich große Mühe gegeben, die vielen unterschiedlichen Materialien (Zitate, Fotos, Biographien, Hinweise, Verweise, Literaturangaben, Informationen zum Weg etc.) bei Beibehaltung eines Taschenformats zu systematisieren. Heraus kam ein aufwendiges, gut durchdachtes Layout. Daß so manche Seite überladen wirkt, liegt hier wohl in der Natur der Sache, daß in machen Dingen größere gestalterische Dezenz angebracht gewesen wäre, ist reine Geschmacksfrage.
Das Aufsuchen der Schreibtischumgebungen und Dichterlieblingsorte entkommt nicht dem Auratischen, mitunter läßt man so etwas wie den Genius Loci aufblitzten („und mancher, der abends vorüberging, mag wohl über die Gartenmauer Singen und Saitenspiel gehört haben“). Daß die Spaziergänge nicht zu Wallfahrten wurden, weiß der durchwegs szientifische Fokus der Beiträge zu verhindern – was ihrer leichten Lesbarkeit keinen Abbruch tut. Die Herausgeber konnten literaturwissenschaftlich aus dem Vollen schöpfen, wissenschaftlich ist das Buch auf der Höhe der Zeit – Experten schrieben über „ihren“ Autor oder „ihre“ Autorin: Müller über Waggerl, Weichselbaum über Trakl, Part über Bernhard etc.
Daß selbst für viele Kenner der Salzburger Literaturtopographie noch genug zu entdecken bleibt, dafür sorgt etwa Christa Gürtler mit ihrem Beitrag „Auf den Spuren Salzburger Dichterinnnen“. Neben solchen Entdeckungen leistet Salzburger Literatouren auch noch Enzyklopädisches: Die Literaturinstitutionen des Landes und die Dichter-Straßennamen der Stadt Salzburg werden erklärend aufgelistet und Monika Obrist stellt in einem Artikel die Salzburger Autorinnen und Autoren der Gegenwart vor.
Den Literaturtopographen im Land wird auch in Zukunft nicht die Arbeit ausgehen: Schließlich wurde vor kurzem in einer Ausstellung erstmals der Öffentlichkeit ein wenig Einblick gewährt in einen unveröffentlichten Roman Bernhards, der offensichtlich in Schwarzach spielt. Da wird der Thomas-Bernhard-Weg in St. Veit im Pongau wieder viele neue Stationen dazubekommen.