Ein Kassenschlager war das Spiel vom Sterben des reichen Mannes von Hugo von Hofmannsthal, das erstmals 1920 auf dem Domplatz zu sehen und damals die einzige Schauspielveranstaltung war, von Anfang an. Und zwar bereits bevor es die Salzburger Weihen erhielt. Ironischerweise wurde der Jedermann, der zu Salzburg gehört wie der Schnürlregen und die Nockerl, bereits 1911 von Max Reinhardt uraufgeführt – und zwar in Berlin in einem Zirkuszelt.
Der Schweizer Journalist Andres Müry hat einen guten Blick für die vielen Widersprüche, die die Salzburger Festspiele von Anfang an prägen. Er beschreibt die ästhetischen und weltanschaulichen Wurzeln Hofmannsthals, der restaurativ in der Wahl seiner Stoffe auf die Welt des Barock zurückgreift und die ständisch-katholische Weltordnung als einziges Mittel betrachtet, die aktuellen sozialen Gegensätze zu beruhigen. Er beschreibt wie Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal, beide Juden, antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt sind. Zugleich ist Reinhardt vom österreichischen Volksschauspieler Attila Hörbiger als Jedermann begeistert, der bereits damals Mitglied der illegalen österreichischen Nazipartei ist und in Salzburg für Fotos in Lederhosen und weißen Kniestrümpfen – dem Erkennungszeichen der Illegalen – posiert.
Müry findet treffende Bilder für ein Stück, das sich im Grunde schon zur Zeit seiner Entstehung überlebt hat und das alljährlich in Inszenierungen zu sehen ist, die kaum mehr als Stellproben mit Stars sind: „Jedermann vor dem Salzburger Dom: das ist künftig der Theater-Zombie, der nicht leben und nicht sterben darf. Die Über-Ironie dabei: dass er die Botschaft des ‚Memento mori‘ verbreitetet.“ Seine Geschichte des Jedermann-Mythos ist informativ, zugleich brilliant geschrieben, schlank und leserfreundlich.
Es treten der Reihe nach die verschiedenen Jedermann-Darsteller auf, die auch in einem eigenen Bildteil zu sehen sind, von Alexander Moissi bis Curd Jürgens, Maximilian Schell, Klaus Maria Brandauer und Peter Simonischek, der ab 2002 in der Titelrolle zu sehen sein wird. Ergänzend finden sich Primärtexte, in denen Hofmannsthal seine Festspielidee darlegt, Karl Kraus gegen den „großen Welttheaterschwindel“ ins Feld zieht, und Schauspieldirektor Peter Stein und sein Jedermann Gert Voss im Gespräch mit einem Kirchenmann, dem Domkapitular Johannes Neuhardt, auf hohem Niveau und unter Einbeziehung von Bert Brecht erklärt bekommen, wie unaktuell der „Jedermann“ doch eigentlich ist.
Ein Buch, das bestens geeignet ist für jede Reise nach Salzburg zu den Festspielen, auch, wenn man nicht ausgerechnet den „Jedermann“ besuchen sollte. „Jedermann darf nicht sterben“ ist ungefähr eine Zugfahrt lang. Will man an diesem Buch, das vor allem deshalb besticht, weil es zwar wissenschaftlich arbeitet, aber sich nie in unwichtigen Details verliert, etwas kritisieren, dann könnte man über das Fehlen eines Registers ein Wort verlieren und noch eines über die Namensschreibung. Trotz Rechtschreibreform führt Richard Strauss kein „ß“ im Namen.