#Roman

STYX

Jürgen Bauer

// Rezension von Daniela Fürst

Wenn die Welt zur Bühne wird und die Bretter, die die Welt bedeuten, es tatsächlich tun, ist das das Paradies oder das Gegenteil davon? Dieser Frage geht Jürgen Bauer in seinem aktuellen Roman STYX nach und lässt uns eintauchen in die Welt der Oper.

Bruch

Madame Partitur – wie die Protagonistin von allen in ihrem Arbeitsumfeld genannt wird – hat fast ihr ganzes Leben als Souffleuse in einem namhaften Wiener Opernhaus gearbeitet. Nach dem Tod ihres Ehemannes, eines berühmten Theaterregisseurs und langjährigen Intendanten des Opernhauses, scheint ihr Beruf auch die einzig verbliebene Aufgabe in ihrem Leben zu sein. Als die Corona-Pandemie den Opernbetrieb jäh unterbricht und Aufführungen nur noch für ein unsichtbares digitales Publikum stattfinden, geht für sie auch der letzte Anker verloren.

Eines Tages verweigert sie einer Sopranistin während einer digitalen Übertragung die Hilfe als diese zum wiederholten Mal den Text vergisst und verlässt im Anschluss wortlos das Opernhaus. Madame Partiturs bis dahin halbwegs funktionierende wie auch fragile Normalität löst sich, wie jene der Gesellschaft, von einem Tag auf den anderen auf. Zurückgeworfen auf sich selbst, ohne Familie und Freunde, zieht sie sich auf ihr Grundstück am Land zurück, in ein paradiesisches Gartenreich mit idyllischem Teich, welches ihr verstorbener Mann mit viel Hingabe angelegt und gepflegt hatte.

Winter

Jürgen Bauers fünfter Roman gliedert sich in vier Akte, in ihrer Abfolge benannt nach den Jahreszeiten. Es beginnt im Winter. Madame Partiturs Leben erscheint zu diesem Zeitpunkt wie die winterliche Natur kalt, leer und bar jeder Lebendigkeit. Da kommt ihr der vierbeinige Streuner, den sie nach einer Figur in ihrer Lieblingsoperette Hans Styx nennt, mehr als gelegen. Ihr berufliches Engagement an der Oper hält sie durch den Vorfall für beendet, doch die Opernintendantin versichert ihr, dass sie Madame Partiturs Wissen und Erfahrung nicht verlieren wolle.

Das vermeintliche „Nichtverlängerungsgespräch“ endet mit dem Angebot, dass die Intendantin jederzeit persönlich und telefonisch zur Verfügung stehen würde. Sie legt Madame Partitur aber auch nahe, endlich über ihren verstorbenen Mann zu sprechen. Stur sei sie geworden und ihr Verhalten doch recht seltsam seit seinem Tod – ein Tod, der über ein Jahr gedauert hat. Die Erinnerungen daran hat Madame Partitur sorgsam, zusammen mit ihrem damaligen Ich, in der Hütte im Garten Ihres Mannes weggeschlossen. Doch nach dem Winter kommt unweigerlich der Frühling, der zweite Akt beginnt, und mit ihm erwacht die Natur wieder und die Dinge beginnen sich naturgemäß unkontrolliert zu verändern.

Oper

Wäre der Roman tatsächlich ein Bühnenstück, wäre das dazugehörende Bühnenbild eine Gartenkulisse. Eben jenes Stück Natur, dessen natürlichen Wildwuchs der Ehemann in ein grünes Paradies umgestaltet hat.
Den Beschränkungen der zwischenmenschlichen Kontakte während der Lockdowns entsprechend, kommt auch der Roman oder seine „Besetzungsliste“ mit einer recht wenigen Figuren aus. Neben der Protagonistin und Ich-Erzählerin ist die Opernintendantin die zweite Frau im Ensemble. Manchen Leser:innen könnte sich der Vergleich mit einer seit 2022 in Wien arbeitenden Operndirektorin aufdrängen, doch die Übereinstimmungen erschöpfen sich rasch in ein paar wenigen demografischen Daten. Zwischen den zwei so unterschiedlichen Frauen, die ihre pandemiebedingte Einsamkeit und ihre bedingungslose Liebe zur Oper eint, entsteht erst eine berufliche, dann eine therapeutische und zuletzt einer freundschaftliche Verbundenheit.

Vervollständigt wird das minimalistische Figurenensemble durch zwei Männer: Zum einen ist da der verstorbene Ehemann, Theaterregisseur und Opernintendant, den wir nur aus den Erinnerungen und Erzählungen der Souffleuse kennen. Er war das kreative Genie, in dessen beruflichen Erfolg Madame Partitur ganz selbstverständlich viel Lebenszeit und Energie investiert hatte – wie viele Frauen ihrer Generation, auf Kosten ihrer eigenen Selbstverwirklichung. Am Ende seiner Karriere widmete er sich mit voller Hingabe dem Gärtnern, und so, wie er als Regisseur seine Inszenierungen mit komplexen und kunstvollen Modellen aus Schuhschachteln nachgebaut hatte, so gestaltete er später auch den Garten und das umliegende Waldstück nach seinen ganz eigenen Vorstellungen.

Zum anderen taucht wie aus dem Nichts ein rätselhafter Gärtner auf, der immer dann zur Stelle ist, wenn die Souffleuse ihn am dringendsten braucht und der wegen seiner Geheimnisse und speziellen Beziehung zur Natur am Anfang mehr an den Waldgott Pan erinnert, als an einen realen Menschen. Er behauptet, geschickt worden zu sein, um Madame Partitur zu helfen und nachdem der räudige Hans Styx ihm zu vertrauen scheint, gibt ihm auch die Hausherrin eine Chance und lässt den Fremden erst in ihren Garten und später mehr und mehr in ihr Leben. Es folgt der dritte Akt, der Sommer …

Styx

Die recht realistische Erzählung vom Leben der Souffleuse, die nach einem großen Bruch mithilfe eines streunenden Hundes, einer exzentrischen Opernintendantin und eines geheimnisvollen Gärtners versucht, aus ihrer Einsamkeit in ein neues Leben zurückzufinden, ist eine Ebene des Textes. Darunter liegt eine weitere, weniger vordergründige. Diese handelt, dem Romantitel gerecht werdend, von Tod und Trauer, von Schuldgefühlen und dem Wunsch, das Verlorene wieder zurückzuholen. So wie Orpheus in der griechischen Sage den Fluss Styx passieren muss, um seine Frau Eurydike aus dem Totenreich Hades zu holen, so kehrt Madame Partitur – einen Bach überquerend – in die Gartenhütte zurück, um sich dem Geist ihres verstorbenen Mannes zu stellen.

Immer wieder lässt Jürgen Bauer in seinem Roman die Grenzen zwischen Realität und Illusion, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen dem Natürlichen und dem Inszenierten gekonnt verschwimmen. Er überlässt es den Leser:innen, welche Perspektive sie einnehmen möchten und ermöglicht ihnen so nebenbei, einen Blick in die Welt der Oper zu werfen, die – ganz wie der Garten – lediglich ein kunstvoll gestaltetes Abbild unserer Welt zu sein scheint.

Und ehe der Vorhang fällt, wird es noch Herbst im Garten …


Daniela Fürst
ist Kultur- und Mediensoziologin und seit 2004 redaktionell sowie organisatorisch Teil des Projektes literadio, das Gegenwartsliteratur hörbar macht .

Jürgen Bauer STYX
Roman.
Wien: Septime Verlag 2024
192 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-99120-033-8

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Homepage von Jürgen Bauer

Rezension vom 06.08.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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