Ihr Fundament ist die These, daß Fragen der Ästhetik angesichts der Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung im Dritten Reich zunächst wenig Platz haben. Er klammert deshalb die Holocaustliteratur aus der „Schönen Literatur“ aus, weil es bei ihr um Erzählungen und Berichte geht, die ans Unsagbare der Erfahrung rühren. Literatur und Schreiben sind da an eine Grenze gekommen, bei der viele fragen, ob nicht Stille, Schweigen und Nicht-Schreiben die angemesseneren Reaktionen waren und sind. Andererseits ist die Tatsache unübersehbar, daß es so viele, um sich in der absoluten Demütigung einen Rest von Sinn für ihr Leben zu bewahren, drängte, die Ungeheuerlichkeit ihrer Verlassenheit der Nachwelt, Mitwelt, sich selbst oder Gott mitzuteilen. So viele haben wie besessen aufgeschrieben, was um sie vorging. Nur ein Rest davon ist uns erhalten geblieben und dies an den seltsamsten Orten: Tagebücher an den seltsamsten Verstecken, um sie den Nazis zu entziehen, Graffitis in Eisenbahnwaggons usw. Die bekannten Romane und Berichte von Primo Levi, Robert Antelme, Elie Wiesel, Jean Améry oder H. G. Adler sind nur Teil einer riesigen Menge von Schriftstücken, die die Unbegreifbarkeit dessen, was hier Menschen widerfahren ist, zu bewältigen suchen. Fragen nach dem Status dieser Literatur, Fragen nach Wahrheit, Wirklichkeit, Tatsache, Literatur und Dokument sind zwar wichtig, aber das Kriterium der Literarizität rückt nach Sem Dresden an eine untergeordnete Stelle. Der Autor plädiert dafür, „den Unterschied zwischen all diesen Dokumenten nicht zu groß anzusetzen und statt dessen davon auszugehen, daß es unterschiedliche Arten gibt, eine unerreichbare und unsagbare Wirklichkeit zu beschreiben und anzudeuten. Es läßt sich nicht im voraus beurteilen, ob der zeitgenössische Bericht eines Augenzeugen sich hierfür besser eignet als ein historischer Roman oder eine vollständig erfundene Erzählung.“ (S. 83)
Unter dieser Prämisse ist es nicht verwunderlich, daß Sem Dresden keineswegs eine vollständige Erfassung der Holocaust-Literatur im Sinn hat. Etliche wichtige literarische Repräsentanten wie Imre Kertész oder – bei den Österreichern – Albert Drach fehlen. Nach der allgemeinen einleitenden Debatte über den Status der Holocaust-Literatur versucht Dresden exemplarisch darzustellen, wie Verfolgung, Vernichtung und „Befreiung“ dargestellt wurden. Der Holocaust wurde in der Gattung der „Tragödie“ gedacht, als literarische Vorbilder wurden Franz Kafkas Romane und vor allem Albert Camus‘ Die Pest herangezogen, und doch geht diese Anlehnung ins Leere, weil sie die spezifische Extremsituation der Todesmühlen übergeht. Auch in der von Hannah Arendt initiierten moralisierenden Debatte über die Judenräte plädiert Dresden über eine übergeordnete Perspektive, weil die Hoffnungslosigkeit und Umweglosigkeit der Judenvernichtung von den Betroffenen nicht gedacht werden konnte. Judenräte sinnten auf traditionelle Auswege durch Anpassung und wurden dadurch erst recht in perfider, unfreiwilliger Weise zu Mithelfern der Henker.
Befreiung aus der Erfahrung ist nicht möglich, wohl aber die Freiheit, sich auszudrücken, und die Freiheit, Berichte und Fiktionen darüber zu lesen und sehen. Theodor W. Adorno und George Steiner haben ihre heftigen Einwände gegen eine Literatur über Auschwitz vorgetragen. Paradox die Intervention des Medienkritikers Günter Anders, der angesichts der Holocaust-Fernsehserie gerade diejenigen in die Mangel nahm, die deren Verharmlosung und Personalisierung kritisierten. Schweigen und Vergessen sind allzu nahe; indem man den Holocaust verabsolutiere, nimmt man ihm die Erinnerung. Sem Dresden diskutiert die Wirkung von Holocaust-Literatur, den Erfolg der Bücher von Primo Levi und des Tagebuchs der Anne Frank, die stark auf das Allgemein-Menschliche zielen. Das Publikum hat ein Bedürfnis nach dem „Verkleinerungsglas“. Identifikation und Schauder, das Bedürfnis nach „tragic pleasure“ und der Triumph der künstlerischen Schönheit über die Herrschaft des Todes gehören mit zu den Bedingungen, wenn sich heute ein großes Publikum mit Romanen, Erzählungen, Fotografien und Filmen beschäftigt. Natürlich auch die Scham des Überlebens, daß es für das Davonkommen keine vernünftige Erklärung gibt.