Antisemitismus in vielschichtiger Form ist daher über weite Strecken auch ein zentrales Thema der Fackel und der Denkwelt des Karl Kraus gewesen. Vor der Folie seiner Zeitgenossen betrachtet, bildet Karl Kraus keine Ausnahme, sein individueller Fall variiert zahlreiche in der Wiener jüdischen Kultur angelegte Muster.
In seiner materialreichen Studie zeichnet John Theobald akribisch den Weg des Karl Kraus vom erfolgreichen Nachwuchsmann im jüdisch-liberalen Wiener Pressemilieu über die Trennung von der Neuen Freien Presse und den zeitweiligen Flirt mit einer sozialistischen Argumentation zu einer konservativen Position, die sich der „selbsthasserischen“ Argumentation Weiningers bedient und ihn zum wohl schärfsten Kritiker einer mit Recht als jüdisch etikettierten Wiener Presse-Kultur werden ließ. In einer Mischung aus Bedrohungsgefühl und narzißtischer Kränkung artikulieren sich in den teilweise heute noch bei der Lektüre befremdenden Aussagen des Satirikers über „das Jüdische“ Sehnsüchte nach einer die Wiener Enge transzendierenden Geisteswelt, nach der Assimilation in eine Kultur, die die Distinktion „jüdisch-nichtjüdisch“ überwunden hat. Karl Kraus wird uns als ein sozusagen absurder Held beschrieben, der in seinem Bemühen, die Ghetto-Mauern zu überwinden, ständig mit neuen Mauern konfrontiert wurde, die am Ende in Form des manifest rassisch argumentierenden Antisemitismus seine lebenslangen Versuche der Selbst-Emanzipation zunichte machten. John Theobalds subtile Überlegungen haben einen hohen Erklärungswert für gesellschaftliche und politische Werthaltungen des Satirikers bis hinauf zur nationalsozialistischen Bedrohung.