– Die erste Rede widmet sich dem Problem des „fortschreitenden Verlustes an Symbolisierungsfähigkeit“ in unserer Gesellschaft – also des zunehmenden Verlustes literarischer und ästhetischer Kultur;
– die zweite („Was hängt dort an der Wand?“) dem Problem des (nationalen wie musealen) Umgangs mit so genannter „Raubkunst“ sowie der Frage, warum die Thematisierung dieses Problems erst in den späten 1990er-Jahren möglich wurde (im Übrigen bietet dieser Text einen ausgezeichneten Überblick über die Presseberichte zu diesem Thema); in der sechsten Rede wird dies noch einmal aufgegriffen und mit der Frage nationaler Identität und nationalen Kunstbesitzes verknüpft;
– die dritte Rede fragt: „Warum studiert, warum lehrt man Literaturwissenschaft?“;
– die vierte untersucht das Problem des Todes und des (literarischen) Nachlebens anhand des Autors Christoph Martin Wieland;
– die fünfte Rede stellt die Frage „Was heißt: Eine Metapher verstehen?“;
– und die sechste Rede geht dem Sinn und den Aufgaben einer Kulturstiftung nach. So unterschiedlich die einzelnen Themenstellungen sein mögen, so werden sie doch alle von ähnlichen Fragen zusammengehalten: Wozu Kunst? Wozu Literatur? Wozu Literaturwissenschaft? Und sind diese Fragen (noch oder gerade) heute überhaupt wichtig? Die Vielfältigkeit, die gewollt belassene Mündlichkeit der Texte und auch ein gewisser Eklektizismus gereichen dem Buch keineswegs zum Nachteil, im Gegenteil: Schon lange nicht mehr sind Essays in so interessanter und genussvoller Gestalt erschienen.
Den Kern der Argumentation des Buches könnte man trotz der Gefahr unzulässiger Verkürzung folgendermaßen zusammenfassen: Kunst und vor allem Literatur sind nicht Kommunikation, sondern notwendige Formen der Symbolisierung, die uns als BetrachterInnen / LeserInnen zu symbolisierungsfähigen Wesen machen, was „bedeutet, etwas sehen zu können, was man nicht sieht – soll heißen: die Fähigkeit zu haben, sich beim Beobachten zu beobachten“ (S. 23; Reemtsma argumentiert hier völlig plausibel und konzise systemtheoretisch und zeigt dies eindrücklich und knapp anhand Shakespeares „Richard II.“). Nur mit dieser Fähigkeit können zur Unmittelbarkeit der Realität (im Indikativ) Alternativen (im Konjunktiv) überhaupt gesehen und entwickelt werden. Das funktioniert im Übrigen nur durch die Rezeption von guter Kunst, daran lässt Reemtsma keinen Zweifel; und seine vernichtende Kritik des trivialen Schwachsinns „masochistischer“ und „sadistischer Idioten“ in nachmittäglichen Fernsehsendungen (S. 30) ist an Deutlichkeit kaum zu überbieten.
Gesellschaften fühlen sich in literarischen Werken und Kunst symbolisch repräsentiert was wohl stärker nach Affirmation klingt als es Reemtsma wohl meint – allerdings wehrt er sich mehrmals gegen die politische Instrumentalisierung der Kunst durch die 68er-Bewegung. Den ganzen „Betrieb“ rund um die Literatur, vor allem in Form der Literaturwissenschaft, benötigen wir einzig und alleine zur Aufrechterhaltung dieses „Spiels“ – und das meint der Autor mitnichten abwertend -, weil der Betrieb „Ausdruck der Bedeutung ist, die die Gesellschaft der Literatur (und den anderen Künsten) einräumt“ (S. 16). (Es mag sein, dass die Literatur ohne Literaturwissenschaft ebenso existieren würde, allerdings verlöre sie ein Deutungsprivileg, das im Wesentlichen seit der griechischen Antike besteht.)
Nun darf man nur nicht den Schluss daraus ziehen, dass Literatur und die Kenntnis davon etwas mit einem (gesellschaftsverändernden) Nutzen zu tun hätten, keineswegs. Reemtsma stellt klar, dass eine kulturelle Elite ihre Identität nur „durch einen weltanschauungsunabhängigen Kunstbezug gewinnen“ (S. 91) kann. Und niemand wird durch Kunstrezeption ein anderer (i.e. besserer) Mensch. Aus diesem Pessimismus solle aber niemand den Schluss ziehen, wir sollten Literatur, Literaturwissenschaft, Museen oder Kulturstiftungen nicht mehr alimentieren. Nur die Begründung dafür muss anders aussehen – und die schaut zusammengefasst so aus: „man hat es gern, daß es sie gibt“ (81).
Es braucht also durchaus auch Literaturauslegung, und diese wiederum benötigt, wie es bereits Aristoteles vorgeschlagen hat (S. 134), Regeln, die keineswegs willkürlich sind – das macht neben den Argumenten auch ein Seitenhieb auf dekonstruktivistische Theorien – „Symptome des Kommunikationsverfalls“ (S. 94) – klar, sondern dem Text zu folgen haben und somit falsche und übertriebene Interpretationen ausschließen.
Kenntnis der Literatur und der Kunst bleibt dabei einer „Elite“ vorbehalten – „eine Handvoll bezahlter Kenner“ fragt „stellvertretend für den Rest […]: Sind wir das?“ (S. 17). „Wo Menschen über Literatur reden, reden sie letztlich über sich“ (S. 112). Dass viele oder gar alle Menschen an der literarischen Kultur teilhaben, hält Reemtsma für eine „vollkommen unrealistische“ Forderung – daher das „unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit“ im Titel, das nun allerdings keineswegs bedrohlich ist. Bedrohlich wird es erst, wenn auch die kulturelle Elite am Sinn der Literatur und der Literaturwissenschaft zu zweifeln beginnt – und genau an diesem Punkt stehen wir, und zwar erstmals seit es das Reden über Literatur gibt, also seit mehr als 2500 Jahren. „Eine Sache, die auch von denen, die dafür bezahlt werden, sie ernstzunehmen, nicht mehr ernstgenommen wird, könnte, da sowieso kein, sagen wir: authentisches Bedürfnis nach ihr besteht, als endlich entbehrlich angesehen werden.“ (S. 40) Auch Funktionäre einer Universität – selbst wenn Sie keine Geisteswissenschaftler sind gehören zu einer solchen kulturellen Elite.
Das Lamento über den Verfall literarischer und ästhetischer Bildung ist allerdings müßig und unsinnig. Vielmehr sollten die bezahlten Akteure im Literaturbetrieb ihren Pflichten nachgehen: Literaturwissenschaftler sollen Literaturwissenschaft betreiben, um andere Literaturwissenschaftler auszubilden, „damit ein Teil von denen an den Schulen den Heranwachsenden ein wenig literarische Bildung beibringt“ (S. 81), weil man es eben einfach – wie bereits erwähnt – gern hat. Und wenn es niemand mehr gern hat, dann solle man sich nicht dagegen auflehnen, denn: „was geschieht, geschieht.“ (S. 100) Bei allem Lob des Buches: Reemtsma scheint hier die Tatsache nicht zu berücksichtigen, dass Wissenschaft nicht nur in einem beschreibenden Akt der Wiedergabe von Realität aufgeht, sondern immer auch Bedeutungszuschreibung, das heißt Wirklichkeitsgestaltung ist. Literaturwissenschaft hat also, wenn auch in sehr bescheidenem Maße, die Kraft und die Aufgabe, Einfluss auf unser soziales Umfeld zu nehmen.
Am Niedergang literarischer Kultur ist nach Reemtsma allenfalls, siehe oben, die kulturelle Elite verantwortlich zu machen (nicht eine wie auch immer gestaltete Mehrheit) – und dass die Literaturwissenschaft Teil dieser Elite ist und somit ein hausgemachtes Problem hat, verschweigt Reemtsma nicht. Sein Resümee ist daher auch schlicht und tut weh: „Für die gruppeninterne Kommunikation ist man immer selbst verantwortlich. Und an ihrem Ruin selbst schuld.“ (S. 100)
Ein bisschen zu sehr schreibt Reemtsma gegen die These an, literarische Kultur habe keinen Nutzen und die Frage nach einem solchen sei kontraproduktiv, auch wenn ein Grund dafür, sich nämlich nicht vereinnahmen und instrumentalisieren zu lassen, sehr gut nachvollziehbar ist. Ein bisschen zu sehr betont Reemtsma den elitären Charakter literarischer Kultur. Beides vergisst – und Reemtsmas eigene Argumentation widerspricht ja im Grunde auch diesen Annahmen -, dass möglicherweise noch weniger kulturelle Bildung noch mehr idiotische Fernsehsendungen nach sich zieht. Vielleicht ist eine gewisse Übertreibung auch der Form der Rede geschuldet, bei der man doch ein wenig dicker auftragen kann und muss. (Zudem – das kann man nicht verhehlen – tut dies auch wohl bei all den spitzfindigen und unangreifbaren Texten, die sonst zu diesem Thema kursieren.)