Canettis Selbstbiographie liegt ein Konzept zugrunde, ein Kriteriensystem zur Auswahl und Ordnung des biographischen Materials, das er recht streng angewandt hat und von Hanuschek zurecht als teleologisch bezeichnet wird: vieles, sehr vieles läuft auf einige wenige Grundthemen zu, die den Schriftsteller Canetti ausmachen, letztlich vielleicht auf das eine Thema, die Canettische Obsession der Masse, in der sich das an seiner Isolation leidende Individuum aufgehoben findet. Paul Nizon, der mit Canetti eng befreundet war, hat von einer Hagiographie des Ich-Erzählers gesprochen (in: Canetti in Zürich. Erinnerungen und Gespräche. Hrsg. v. Werner Morlang. München Wien 2005, S. 42). Auch wenn man nicht so weit gehen will, ist doch klar, daß die starke Konzeptionalisierung die Biographie vereinheitlicht und glättet. Hanuschek verfällt bei seinem eigenen Versuch nicht in das Gegenteil, sondern macht sich ohne allzuviel Respekt und theoretische Bedenken ans Erzählen. Vorbild waren ihm dabei offenbar Biographien angelsächsischer Machart wie die von Richard Ellmann über James Joyce, die auch Canetti emphatisch gelesen hat. Das bewirkt nicht zuletzt, daß Hanuscheks Buch als gediegenes Erzählwerk lesbar ist, und zwar bis zur letzten Seite und nicht nur bis zur Hälfte wie bei anderen Autoren, wo sich alles Wesentliche in ihren frühen Jahren abgespielt hat, während sie später nur noch ihren Ruhm verwalteten. Bei Canetti ist das ganz anders. Den Durchbruch schaffte er erst an der Schwelle zum Alter, und sein (einziges) Kind, das er mit seiner zweiten Ehefrau zeugte, kam 1972 zur Welt, als er bereits 67 war. Also genug abwechslungsreicher Stoff für eine Biographie von ca. 700 Seiten.
Abwechslungsreich, das Epitheton verweist auf eines der zentralen Motive von Canettis Werk: die Verwandlung, figürlich vorgestellt im mythischen Gott Proteus. Richard Kämmerlings, der Hanuscheks Buch bestenfalls oberflächlich gelesen hat, meint in seiner Rezension in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der Biograph sei Canettis Lieblingsmaske vom ewig sich wandelnden Proteus auf den Leim gegangen. Das halte ich für ein ungerechtes Urteil, denn erstens ist das kritische Bewußtsein Hanuscheks gegenüber seinem Gegenstand fast schon überscharf, der Vergleich von veröffentlichten und unveröffentlichten Äußerungen Canettis geradezu zwanghaft, und zweitens war Canetti stets bestrebt, ein wohlkonturiertes, ausgewogenes, gar nicht so proteisches Bild von sich zu geben, und drittens ist das offene Voranerzählen eines Lebens durchaus erfrischend im Vergleich zu gewissen sogenannt dekonstruktivistischen Anstrengungen akademischer Autoren, die bis zum Überdruß wiederholen, daß kein Selbst jemals es selbst sein kann. Canetti besaß ein starkes, klar erkennbares Selbst, und er verstand es, sich zu wandeln: ein solches, zugleich identisches und nicht-identisches Bild vermittelt uns Hanuschek.
Der österreichisch-jüdische Schriftsteller Robert Neumann, wie Canetti in der englischen Emigration, „war einer der wenigen Kollegen, die Canetti an Intriganz und Boshaftigkeit gewachsen waren, insofern sind die Porträts der beiden übereinander eine reine Freude.“ Solche Sätze kann wohl nur ein Biograph schreiben, der fähig ist, zu seinem Gegenstand Distanz zu nehmen – mitunter soviel Distanz, daß er Canettis autobiographische Aussagen regelmäßig mit der Modalkonstruktion „will er (getan haben, gesehen haben usw.)“ und ähnlichen Zweifelsbekundungen versieht. Das wirkt bei der Lektüre ein wenig penetrant, denn der Leser hat bald begriffen, daß nicht alles aus der „Geretteten Zunge“ für bare Münze zu nehmen ist. Aus diesem Grund greift auch ein anderer Einwand gegen Hanuscheks Werk nicht so recht: Er habe nicht ausreichend „dagegengehalten“, was den Zeitraum von Canettis Kindheit betrifft. Doch, hat er, soweit es eben möglich ist, denn für jene fernen Jahre im bulgarischen Rustschuk, dann in Wien und in Manchester, gibt es kaum noch Zeugen und überhaupt keine Aufzeichnungen, im Unterschied zu den späteren Jahren. Was hätte der Biograph also tun sollen, außer seinen kritischen Verstand walten lassen und von Zeit zu Zeit ein „will er“ einzuschieben? Die Darstellung des vielstimmigen Lebens in der bulgarischen Kleinstadt, wo „alles schon einmal geschehen“ ist, wird für immer von einem mythischen Wind umweht sein.
Besonders die autobiographischen Romane Canettis werfen die Frage nach der Wertung seiner verschiedenen Werke auf. Hanuschek drückt sich um diese Frage nicht herum – allerdings kann es ihm auch nicht darum gehen, eine Hierarchie aufzustellen. Etwa im Sinn der zitierten Bemerkung von Paul Nizon lesen wir bei Hanuschek: „Canettis Lebensgeschichte ist ein so einzigartiges Leseerlebnis, weil man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dem Erzähler seien alle Brüche, Zweifelhaftigkeit, Erfindungen seiner Erinnerung bewußt – und dennoch übertüncht, ja überdröhnt er die Risse sorgfältig, mit großen Gesten, mit seiner ‚ebenso unerklärlichen wie peinlichen Sicherheit‘.“ (S. 101; das Zitat im Zitat stammt von Canetti selbst.) Das Beharren auf Canettis Widersprüchlichkeiten schließt Bewunderung für sein Verfahren der Schönung nicht aus. Hanuschek bezeichnet in einer Überschrift die Aufzeichnungen als das „Zentralmassiv“ von Canettis Werk. Darüber läßt sich streiten, denn in diesen Büchern und wohl mehr noch in den unveröffentlichten Teilen steckt auch viel Geschwätz und manchmal sogar üble Nachrede. Mag sein, daß die „Blendung“ bei Hanuschek ein wenig stiefmütterlich behandelt wird; andererseits gibt die grelle Romangroteske für die biographische Auswertung eben nicht so viel her.
Hanuschek zeichnet das Porträt einer komplexen Persönlichkeit, die sich nicht auf einen einzigen Nenner bringen läßt, wie dies Canetti selbst immer wieder mit seinen Figuren zu tun beliebt, besonders mit den fünfzig Charakteren im Band „Der Ohrenzeuge“. In zwanzig von ihnen würde er sich wiedererkennen, hat Canetti einem Leser geantwortet, der sich in einem wiedererkannt hatte. Die Boshaftigkeit ist sicher kein unwichtiger Charakterzug Canettis, denn sie gibt die Impulse für jene Satire, die sein frühes Werk beherrscht. Aber Hanuschek hütet sich, Canetti darauf festzunageln, denn gleichzeitig steckt in dem „Menschenfresser“, der alle menschlichen Äußerungen zwanghaft aufzeichnen mußte, um sie insgeheim gegen sie zu wenden, ein Menschenfreund: der spätere Anthropologe und fanatische Todfeind, der sich ernsthaft bemühte, das Sterben im Kreis seiner Angehörigen und Freunde zu verhindern. Canetti hing einer Reihe von Obsessionen an, die dazu beitrugen, sein Werk zu strukturieren, allerdings mit der Gefahr von schematischer Erstarrung und Weltfremdheit. Die Krisen, in die Canetti immer wieder schlitterte (im Grunde ist seine halbe Schriftstellerexistenz eine riesige Schaffenskrise), bezeichnet Hanuschek als „Kopfkrisen“, und viele seiner Aufzeichnungen, die doch so reich an detaillierten Beobachtungen sind, „lesen sich ein bißchen wie vom Mond gefallen“ (S. 206). Canetti war, das bestätigen fast alle, die ihn kannten, ein hervorragender Zuhörer – und zugleich ein Haustyrann, ein sephardischer Pascha, der bis zu seiner späten zweiten Ehe stets mehrere Frauen um sich herumtanzen ließ. Hanuschek hebt die Konstante nicht eigens hervor, sie wird in seiner Darstellung aber auch so klar genug: von dem verzogenen Musterknaben im Zürcher Mädchenpensionat zum virtuellen Dreimäderlhaus mit Veza als asexueller Hauptfrau und (mindestens) zwei Nebenfrauen, die unterschiedliche Bedürfnisse zu befriedigen haben. Eigentlich eine Variante des König Ubu, im Geiste pazifistisch, aber doch streng; ein sich aufplusternder Zwerg, zu sprachlichen Superlativen neigend, der jahrzehntelang keine publizierbaren Werke schrieb und andere die Schriftstellerei lehrte. Höchst seltsam, ja, beunruhigend die Beziehung zur acht Jahre älteren Veza, deren Körperbehinderung er mit absurdem Starrsinn verschwieg und die, literarisch begabt, an ihrem Werk verzagte, während sie Canetti, das geniale Kind, beschützte, der sie wiederum gegen ihren Selbstzerstörungstrieb schützte. Eine wechselseitige Abhängigkeitsbeziehung, wie sie im Buche steht, die Canetti aber aus seinen Büchern, auch aus den autobiographischen, weitgehend ausgespart hat. Daß Hanuschek ihr recht genaue und plausible Konturen verleiht, ist eines der großen Verdienste des Biographen.
Auf Seite 426 seines Buchs stößt man auf die naiv klingende, aber gar nicht so naive, weil aus den verschiedenen Lebensdynamiken heraus entwickelte Frage: „War Elias Canetti ein ‚guter‘ oder ein ‚böser‘ Mensch?“ Hanuschek überläßt die Antwort stillschweigend dem Leser, nicht ohne ihm Elemente in die Hand zu geben, die ihn leiten können. Wie bei vielen Personen, berühmten und „gewöhnlichen“, drängt sich ein Weder-Noch auf oder ein Sowohl-als-Auch, aber die Wahrheit liegt nicht einfach in der Mitte. Die beiden Seiten sind eigenartig verschränkt, die Bravheit des Musterknaben und seine Selbstsicherheit bedingen womöglich den urteilenden, oft aburteilenden Blick auf die Mitmenschen, die der Autor dann zu Masken und Typen stilisiert, das heißt: degradiert. Nicht unähnlich verhält es sich mit dem Moralismus von Karl Kraus, den Canetti in der „Fackel im Ohr“ mit eben jener Schärfe porträtiert, die den Zwiespalt im Gewand einer grausamen Vernunft hervorhebt. Karl Kraus war der erste Lehrer Canettis; der zweite war Abraham Sonne, die wichtigste Figur im dritten Band der Autobiographie „Das Augenspiel“. Von Kraus zu Sonne ist es im Kaffeehaus-Wien der Zwischenkriegszeit nur ein kleiner, aber ein großer geistiger Schritt: von satirischer Entlarvung zu menschenfreundlicher Aufmerksamkeit und Güte. Eine ähnliche Entwicklung nimmt das Werk Canettis nach der Eruption des Romans „Die Blendung“, den er nicht wie zunächst geplant in mehreren Bänden weiterführte, mit dem Versuch, an den Wesenskern seines Jahrhunderts vorzudringen („Masse und Macht)“, und den um Menschlichkeit und Vielfalt bemühten autobiographischen Romanen. Zugleich mit dieser Entwicklung verschiebt sich der Akzent im Bereich der thematischen Obsessionen von der Maske zur Masse, zur Verwandlung und schließlich zur lebensbejahenden Todfeindschaft.
Allen Unternehmungen Canettis – meist sind sie groß angelegt – eignet etwas berserkerhaft Bemühtes. Da ist weniger Talent und Neigung zu spüren als zwanghafter „Wille zu…“ Die Obsessionen wirken mitunter wie Marotten, die Ableitungen in „Masse und Macht“ weitschweifig, aber da sich Seine Majestät, der Autor, nun einmal die Masse 0.- eigentlich ein Modethema der zwanziger Jahre, von Ortega y Gasset schon ordentlich ausgereizt – in den Kopf gesetzt hat, machen wir das Spiel mit. Das Wunderbare an der Figur Canetti ist, daß er all diese Verwicklungen selbst zu sehen oder wenigstens zu ahnen vermochte, und Hanuschek zeigt, daß sich in den unveröffentlichten Aufzeichnungen, aber auch in einigen veröffentlichten, immer wieder ein selbstkritischer Gestus, im Alter zunehmend mit Witz und Ironie, durchsetzt. Dennoch ist das Canetti-Gebäude kein Kartenhaus, seine Grundfeste sind mächtig genug, es ist keineswegs vom Einsturz bedroht. In gewisser Weise befindet es sich noch im Fertigstellungsprozeß, mit der ersten umfassenden Autorenbiographie, die nun vorliegt, und weiteren Schriften, die der künftigen Öffnung harren. Während seiner Auseinandersetzung mit Franz Kafka – eher mit dessen Existenz als mit dem literarischen Werk – schrieb Canetti eine Art Gedicht in sein Notizheft, das man auch als Antiporträt, als Porträt gegen sich selbst, lesen kann (bei Hanuschek S. 508):
Schreihals
Grosse Worte
Halt den Mund
Halt endlich Den Mund
Das ist eine Seite der Wahrheit Canettis. Die andere Seite ist die ein Vierteljahrhundert währende Schaffenslücke, das Ausharren unter schwierigsten Bedingungen zuerst in Wien und dann in der englischen Emigration, ein Zeitraum, den er mit einer besonderen Art von Zähigkeit durchstand, im Glauben an sich selbst, einer ganz unkafkaesken Tugend.