Zweifelsohne, die Postmoderne mit ihrer anti-traditionalistischen Haltung, ihren Provokationen und ihrer Aufhebung der Grenzen von U- und E-Kultur löste einen künstlerischen Befreiungsakt aus (wenn auch nicht immer ohne Klamauk und Scharlatanerie). Doch gab es nicht auch schon davor Alternativformen, wie das Theater der Grausamkeit, das Théâtre de la Pauvreté, das alte Orgien- und Mysterientheater? Alles also wirklich neu im 21. Jahrhundert?
Antwort auf diese Fragen suchen sechzehn Autorinnen und Autoren, die sich mit modernen Theorien, Theater-Konzepten und Programmatischem, vor allem aber mit der Praxis, den Inszenierungen der letzten Jahre, den Schauspielern, Stückeschreibern, mit Körper, Stimme, Augenlust, sprich, der Bühne als sinnlichem Ort und Medium auseinandersetzen. Ergänzt wird der eher wissenschaftliche Blick von außen durch zwei Gespräche mit John von Düffel und Patrick Roth sowie einem Statement Albert Ostermeiers, deren Erfahrungen als Schriftsteller, Dramaturgen und Regisseure sehr persönliche Einschätzungen geben. Nicht erst durch sie wird deutlich, dass „Theater fürs 21. Jahrhundert“ nicht mehr als ein Stichwort sein kann.
Plädiert etwa Heinz-Ties Lehmann, indem er vom ‚Text‘ als Untersuchungsgegenstand spricht und die Rede meint, einmal mehr für die Priorität der Inszenierung und prophezeit ganz konsequent ein Theater, das schließlich „ganz ohne dramatische Dichtung“ auskommen könnte, so will das Thomas Rohberg nicht gelten lassen. Er unterstreicht (vor allem auch durch „seinen“ Autor Botho Strauß): „Großes Theater war zu allen Zeiten immer auch verbunden mit großer Literatur“. Es muss wohl seine guten Gründe haben, dass sich alle Beteiligten, seien es Macher oder Kritiker, um eine Definition des Ereignisses Theater herumdrücken, denn schon 1970 musste Dieter Steinbeck in seiner Einleitung in die Theorie und Systematik der Theaterwissenschaft konstatieren: „Mit den Theaterkunstwerken der Geschichte läßt sich nicht mehr ästhetisch, sondern nur noch theoretisch verkehren“. Spätestens also, wenn man, wie hier, übers Theater reden will, kommen auch Diskurstheoretiker nicht um den geschriebenen Text herum, der sich jedoch – und darin hat Lehmann zweifellos recht – von der Inszenierung, dem Ereignis Theater, immer weiter zu entfernen scheint.
DAS Theater gibt es eben nicht, welches sich zu einem gemeinsamen Trend oder einer Tendenz zusammenfassen ließe (so John von Düffel). Immerhin aber darf, wie Christian Dawidowski unterstreicht, nach einer Phase der Inszenierungs- und Event-Priorität in den späten 1990er Jahren heute wieder über Texte geredet werden. Andererseits wären da Autoren wie Heiner Müller, René Pollesch und Elfriede Jelinek, die gegen das Theater, den Schauspieler als Charakterdarsteller, der Bühne als exakt begrenztem, fiktionalem Raum, dem Text als Inszenierungsbasis anschreiben. Wer diese Stücke liest, kommt nicht umhin, sich zu fragen, wieso solche Texthalden wie die Elfriede Jelineks (der in diesem Band nicht erst wegen des ihr mittlerweile verliehenen Nobelpreises zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde) derart fulminante Inszenierungsleistungen wie die des „Sportstücks“ oder „Wolken.Heim“ provozieren, wo doch andere, eher lesefreundliche Stücke wie die Sibylle Bergs, Peter Turrinis oder Werner Schwabs (er ein weiterer, sehr „literarischer“ Autor, der in diesem Band fehlt) für hervorragende Inszenierungen genauso taugen wie für versemmelte Schüleraufführungen. Und noch etwas ließe sich an den Stücken Sibylle Bergs zeigen: Sie sind ein gutes Beispiel dafür, wie Sprachspiel und Charakter sich durchaus vereinbaren lassen, obwohl doch Rolle und Person des Schauspielers – erst recht nicht im antirepräsentativen Theater des 21. Jahrhunderts – ineinander aufgehen. Im Gegenteil, ein Schauspieler, der der Vollstrecker des Dramas ist, macht ihn, so Jens Roselt, „dem postdramatischen Theater suspekt“.
Nicht nur wer sich zu den passionierten Theatergängern zählt, muss bei der Bandbreite heutiger Möglichkeiten erkennen, wie zufällig die Auswahl der besprochenen Autoren, Stücke, Inszenierungen dieses Bandes ist, wohl auch sein muss. Fazit: Die Versuche, verbindlich übers Theater zu reden, sind so vielfältig wie die Texte (man lese das Autoren- und Stückeverzeichnis am Ende des Bandes) und deren Inszenierungen auf den Brettern, die noch immer die Welt bedeuten. Leidet auch das Theater an der Überformung des Ereignisses durch die Event-Kultur (die Aufhebung der Gattungsgrenzen durch Einbeziehung von Film und Video, die Enthierarchisierung der Theatermittel, die oft selbstgefällige Demonstration des Mediums), so zeigt das Stichwort ‚Kultur‘ doch auch: Vieles hat seine Tradition (weshalb zumindest ein historischer Artikel diesem Band nicht geschadet hätte). Aufklärung, politisches Theater, Engagement sind noch immer up to date. Was die Menschen faszinierte und was das Theater kann, wird, so jedenfalls Albert Ostermeier am Ende des Bandes, bleiben: uns zu provozieren, Menschen zu gestalten. „Was ich an Spielplänen und am Theater mitunter vermisse, ist genau diese Voraussetzung von Gegenwart und Gewissen: Haltung zu zeigen, eine Richtung zu wagen, eine Konsequenz im Gegen und Für. Beliebigkeit ist ein Energieverlust, den wir uns nicht leisten dürften und können. Die Chance, an etwas ausdauernd, erschöpfend, sich verausgabend zu arbeiten und zu erarbeiten, ist eine der schönsten Möglichkeiten des Theaters“.