#Sachbuch

Malina

Ingeborg Bachmann

// Rezension von Iris Denneler

1971 wurde Ingeborg Bachmanns Roman Malina zum ersten Mal ediert. Seitdem verkaufte Suhrkamp über 250.000 Exemplare, die Leserschaft dürfte mindestens das Drei- bis Fünffache übersteigen. Mittlerweile hat es Malina in den Schulkanon geschafft und in die BasisBibliothek des Suhrkamp Verlags.

Natürlich ist hier nicht der Platz, das Konzept der Arbeitstexte generell unter die Lupe zu nehmen. Ums Nachdenken über selbstgesetzte Ziele, Wege, Aufgaben der BasisBibliothek kommt man dennoch nicht herum (sparen wollen wir uns dagegen die Debatte über Sinn und Zweck von Marginalspalten, wenn sie mal den Wort- und Sacherklärungen, dann – im Anhang – für Stichworte dienen, über den unschönen Wechsel von Serifen- und Sansserifenschrift, über die im Roman eingefügten diakritischen Zeichen, die dem Text als einem ästhetischen Objekt allein schon optisch schwer zusetzen …).

Wer die BasisBibliothek verfolgt, weiß, hier kommen namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort. Hier sind es Monika Albrecht und Dirk Göttsche, die im Kommentar die Ergebnisse ihrer Forschungen präsentieren. Sie akzentuieren, vor- und umsichtig, die Einbettung in Leben und Werk der Autorin, zeichnen die Entstehungs- und Textgeschichte innerhalb des „Todesarten“-Projekts nach, liefern seine Rezeptionsgeschichte und Deutungsansätze bis in die Gegenwart und eine fundierte Auswahlbibliographie. Hier, auf diesen ersten zwanzig Seiten des Anhangs, hat man das Gefühl, neben einer einsichtigen Analyse des Romans jenes Rüstzeug an die Hand zu bekommen, das anregend und weiterführend in die Problematik von Text und Kontext einführt.

>Davor und danach aber: Inkonsistenzen, Fehler, falsche Fährten. Fragt man sich, für wen das Buch insgesamt gemacht sein soll und wer für die verschiedenen Kommentierungsaufgaben zuständig war, gerät man in ein Dickicht von Widersprüchen. Zum Ersten: die Marginalien, die Wort- und Sacherklärungen, die Übersetzungen und Zeilenkommentare sind offensichtlich für eine völlig andere Klientel gedacht als der eben erwähnte Kommentar. Leider können wir es gerade diesen Lesern nicht ersparen, sich für das philologische Pflichtprogramm zu interessieren. Für sie wird, in Bezug auf den Satz, „Wenn ich hingegen ‚heute‘ sage, fängt mein Atem unregelmäßig zu gehen an, diese Arhythmie setzt ein, die jetzt auch schon auf einem Elektrokardiogramm festzustellen ist, es geht nur nicht hervor aus der Zeichnung, daß die Ursache mein Heute ist, ein immer neues, bedrängendes, aber den Beweis für die Störung kann ich erbringen, im fahrigen Code der Mediziner verfaßt, für etwas, das dem Angstanfall vorausgeht, mich disponiert macht, mich stigmatisiert, heute noch funktionell, so sagen sie, meinen sie, die Beweiskundigen“, am Seitenrand erklärt, was ‚Arhythmie‘ heißt. Wenn hier etwas nicht erklärt werden muss, ist es dieser Terminus, denn der ist durch die Apposition bereits paraphrasiert („… fängt mein Atem unregelmäßig zu gehen an“) und mehr als „Rhythmusstörung“ = „Arhythmie“ hat auch die Sacherklärung nicht zu bieten. Doch was ist mit „Elektrokardiogramm“, „fahrig“, „Code“, „disponiert machen“, „stigmatisieren“, „funktionell“? Alles ebenfalls reif fürs Marginaliengrab? – Bitte nicht! (was en passant ein Plädoyer für essayistisches, die Neugier animierendes und selbst-entdeckendes Lesen einschließt).

Leider nehmen die Wort- und Sacherklärungen auf solche Bedürfnisse keine Rücksicht. Doch weiß man wirklich mehr, wenn man „Belvedere“ als „Schloß im III. Bezirk“ ausgewiesen bekommt (diesmal ohne Übersetzung von ‚Belvedere‘) und damit immer noch keine Ahnung hat, wer im Wiener III. Bezirk wohnt, abgesehen davon, dass die Passage darauf zielt, die für Ortskundige womöglich dokumentarische Situation sehr bewusst dem Nicht-Wissen der übrigen Leserschaft gegenüberzustellen. Hilft es weiter, wenn man weiß, dass ein kalkweißer Pierrot eine „Komisch-melancholische Figur der ital. Commedia dell’arte“ ist (was aber ist, bitte schön, die Commedia dell’arte?) und Malina im russ. „Himbeere“ bedeutet? Solche willkürlichen Attacken von Erläuterungsbedürfnis, bei denen es schwer fällt, sie mit dem Kenntnisreichtum der Kommentatoren Albrecht/Göttsche in Verbindung zu bringen, taugen nichts; der Kommentar, so wie er sich vor allem in den Wort- und Sacherklärungen des Anhangs präsentiert, ist vielmehr selbst auf weiten Strecken kommentierungsbedürftig und damit eine Absurdität, besonders dort, wo es um intertextuelle Bezüge geht und häufig nur Namen hin- und hergeschoben werden (Neukantianer = „An Immanuel Kant (1724-1802) anschließende philosophische Denkschule des späten 19.Jh.s.“).

Deshalb hätte es bei den fürs Didaktische zuständigen Marginalien-Zuarbeitern erst einmal der grundsätzlichen Überlegung bedurft, was ein Text überhaupt an Sacherklärungen fordert. Mitnichten heißt nämlich lesen – und das sei an die Adresse des für Klassiker-Zurechtstutzungen mittlerweile berüchtigten Cornelsen-Verlag gesagt -, alles auf der Ebene der ‚Sachen‘ und des ‚Erklärbaren‘ zu erledigen. Gerhard Kaiser, Doyen sensibler literarischer Interpretationen, umschrieb es so: Die angemessene Reaktion des Interpreten bestehe „nicht darin, verweigerte Sinngehalte zu substituieren, sondern exakt den Punkt zu bestimmen, in dem der Sinnhorizont sich offenbart“. Und Peter Szondi ganz ähnlich in seinem Vorwort zu den „Hölderlin-Studien“: „Das philologische Wissen darf also gerade um seines Gegenstandes willen nicht zum Wissen gerinnen“.

Mitunter wird das Ziel der BasisBibliothek, neue Leser zu gewinnen und ein Verständnis zu bahnen (verkaufte Exemplare bis jetzt immerhin 10.000), durch das Ignorieren solcher Lesevoraussetzungen geradezu kontraproduktiv; etwa bei der Übersetzung fremdsprachiger Zitate. Wenn die Ich-Erzählerin sagt, sie habe nicht gewusst, was ‚gyerekek‘ oder ‚kuss gyerekek‘ heißt, so soll das, so darf man vermuten, auch der Leser nicht auf Anhieb wissen. Die Form, der Klang, das Fremdländische, vielleicht sogar die falsche Oberflächenübersetzung (kuss = Kuss, anstatt Kusch) führen auf mögliche Sinnhorizonte. „Ich nickte, obwohl ich es nicht verstanden habe“, heißt es dann auch explizit. Und wir verstehen (und begreifen so das Nichtverstehen, das Fremde zwischen den Geschlechtern): Auch wir Leser haben zu nicken, ohne es verstanden zu haben. Andersherum, aber nicht weniger mit falschem Ergebnis, verhält es sich, wenn Antoinette in altadliger Manier französisch parliert, die Editoren sich zur Übersetzung der Passage entschließen, den Einschub, „Non, sagt diese Marie froidement“, aber weglassen (entsprechend bei „Gesten, Capricen, Allüren“ nur Capricen = Launen für erklärungsbedürftig halten). Doch es kommt noch schlimmer: Dass Antoinette Altenwyl, die ihren Ehemann Atti auf deutsch duzt („du bist mir noch immer das allergrößte Rätsel“), auf französisch aber „Je vous adore, mon chéri“ sagt, ist jedem selbstverständlich, der etwas vom Gebrauch von Du und Vous in beiden Sprachen gehört hat. Wie aber übersetzt der Kommentar: „Ich bewundere Sie, Liebling“. Man muss schon jegliches Sprachgefühl verloren haben, um nicht zu merken, dass hier etwas nicht stimmen kann. Deshalb unterlasse man tunlichst Wort- und Sacherklärungen, die dem Leser mit Halbwahrheiten seine gerade durch den Text selbst geschulte Sprachkompetenz wieder austreiben (unsinnig, etwa im Streitgespräch Malina/Ich-Erzählerin die musikalischen Tempi- und Artikulationsangaben zu übersetzen – und warum, um Gottes Willen, dabei immer in Großbuchstaben: „allegro = (ital.) Heiter u. schnell“? -, wenn der Kommentar einem auf Seite 388 ein Nietzsche-Zitat auf italienisch zumutet). Zu guter Letzt: manche Anmerkungen sind nicht nur schlichtweg falsch, wie „toucher et jouer“, das als „franz., Schachregel“ erläutert wird und keine Schachregel, sondern eine Schachspielregel ist (die das Verhalten der Spieler betrifft), sondern belegen vor allem eins: die Ignoranz ihrer Verfasser. Merke: Wie in der Küche („Griesflammeri = Kalte Süßspeise aus mit Gries angedickter Milch“, „Kaisererdäpfel = Kartoffelzubereitungsart“) ist das Rezept nicht alles.

Fazit: Was man bei einer Historisch-kritischen Edition gerne duldet – die Massakrierung des Textes um der Genese willen – und was der Reclam-Verlag schon lange praktiziert – Kommentare und Erläuterung als hilfreiche, separate Beigaben, nicht als zwangsweise in den Blick gerückte Marginalien – das alles rechtfertigt diese Edition nicht. Dafür arbeitet sie mit an einer Banalisierung von Literatur, die durch ihre Bevormundung des Lesers das exekutiert, was Lesen zur Bildung und Aufklärung prädestiniert. Nachdem es die Marginalien konsequent geschafft haben, uns zu Analphabeten zu machen, können wir plötzlich sogar über das Geklapper des literaturwissenschaftlichen Sezierbestecks jubeln, wenn wir im Kommentar erfahren, die Autorin habe an einem Roman gearbeitet, der wie die Gedichte und Erzählungen durch „existentiale Metaphorisierung zeitgeschichtlicher Generationserfahrung und durch kafkaeske Parabolik gekennzeichnet ist“. Kapiert.

Ingeborg Bachmann Malina
Text und Kommentar.
Mit einem Kommentar von Monika Albrecht und Dirk Göttsche.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004 (Suhrkamp BasisBibliothek. 56).
390 S.; brosch.
ISBN 3-518-18856-9.

Rezension vom 20.12.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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