Jetzt liegt die Summe dieser jahrzehntelangen Obsession vor, ein Buch, das sich zwar bescheiden Eine Biographie nennt, aber mit einem Umfang von 2026 Seiten – davon 400 Seiten Anmerkungen, die wohl einer ganzen Generation von Musil-Dissertanten das Leben erleichtern werden – zunächst genauso abschreckt, wie Musils Werk. Gewiss, auch Musil selbst attestierte sich ein „Genauigkeitsgen“, doch will man es wirklich über einen Autor so genau wissen, dem sein Biograph gleich Anfangs attestiert, er sei nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mehr und mehr ein Autor ohne Biographie geworden?
Vorausgeschickt sei: man will! Das, was man modisch die „Zielgruppe“ nennt, geht bei diesem Buch über den Kreis der Musil-Spezialisten hinaus und es ist vorstellbar, dass selbst jener durchschnittliche Literatur-Konsument, der den „Törleß“ in der Schule mit Befremden gelesen hat, später die „Drei Frauen“, und der den irgendwann einmal erworbenen „Mann ohne Eigenschaften“ mehrjährig am Nachttisch zwischenlagerte und die Lektüre dann genauso wenig vollendete, wie Musil sein Meisterwerk, dieses Buch fasziniert lesen wird. Solche Verschiebungen der Interessen vom Werk auf den Autor sind nicht selten: Richard Ellmanns James-Joyce-Biographie hat wohl auch mehr Leser, als „Finnegans Wake“ und die meisten begeisterten Leser von Ellmanns Oscar-Wilde-Biographie kennen wohl auch nur Teile von Wildes Werk. Das hängt damit zusammen, dass Ellmann einer von denen ist, die einem erzählten Leben einen eigenen Wert geben können, ein sogenannter „großer Biograph“ und als solcher entpuppt sich auch Karl Corino.
Die Spezialisten werden natürlich gut bedient. Obwohl wir immer noch den Verlust etwa der Wiener Papiere Musils beklagen müssen, war die Quellenlage – unter anderem durch Corinos rastlose Sammlertätigkeit – noch nie so gut. Corino kompiliert zudem die ungeheure Menge an Sekundärliteratur, die teilweise an äußerst entlegenen Orten erschienen ist. In summa bietet er uns eine gigantische Verstehenshilfe des Musilschen Werks, die sich der Polemik gegen alternative Sichtweisen weitgehend enthält. Akribisch beschreibt Corino die soziale Lebenswelt Musils – sein Buch ist auch eine Biographie einer heillosen Epoche. Obwohl man immer schon gewusst hat, dass viele der absurden Konstellationen aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ ihr Parallelphänomen in den Lebensumständen des Autors hatten, überrascht doch die Quantität und die Intensität ihrer Präsenz im Hauptwerk. Dass die Figuren des „Mannes ohne Eigenschaften“ reale Vorbilder hatten – etwa Franz Werfel, die Schwarzwalds, oder Walter Rathenau – war bekannt, doch aus den komprimierten Rekonstruktionen ihrer Biographie und ihrer Beziehung zu Musil, aus der Gegenüberstellung „Original – dichterische Verarbeitung“ lernt man unendlich viel darüber, wie der Schriftsteller Musil arbeitete. Diese Qualität der Biographie als Werkkommentar gilt nicht nur für das Hauptwerk, sondern auch für zahlreiche „kleine“ Texte, die man zu überlesen pflegt, die aber einen neuen Stellenwert erhalten, wenn man etwa den Anlass und die Diskurse kennt, die sie provoziert haben. Es gibt, das ist bei jedem Dichter eine interessante Erfahrung, kommentierungsbedürftige Texte Musils, die um einiges interessanter werden, wenn man weiß, warum sie geschrieben wurden.
Doch was die Spezialisten freut, kann das lesende Publikum gelegentlich langweilen. Corino ist es gelungen, hinter all den Details, den intellektuellen und politischen Einflüssen, den notwendigen Exkursen über die deutsche Verlagsszenerie und ihren heillosen Auswirkungen auf Karriere und Finanzen Musils, den Menschen Musil in seiner Zeit auf eine ganz bestimmte Art sichtbar zu machen. Musil trug eine Maske, hinter der er versuchte unsichtbar zu sein: es war sein Credo, dass das Kreative unbestimmt sei. Doch das ist ihm erstens nicht gelungen und zweitens verbergen sich hinter dieser Maske zahlreiche Rätsel. Das beginnt mit der Frage der Auswirkungen der frühkindlichen Meningitis, die möglicherweise nicht nur für das stürmische Betragen des Kindes verantwortlich war, das wiederum mit dem so selbstverständlich hingenommenen „Abschieben“ in die Militärschule zusammenhing. Welch eine seltsame und bedrückende Familiengeschichte! Die unklaren Kämpfe mit der Mutter, die offensichtlich fehlende Rückendeckung von Seiten des Vaters, der noch 1915 an den Offizier Musil die empörte Frage stellte, ob dieser wirklich „in der Monarchie der einzige sein sollte, der sich für den ihm anvertrauten Posten unfähig erwies?“ Dass Musil im Urteil seiner Umwelt als extrem eitel galt und dass der „asoziale Problematiker“ (von dem wir trotz seiner Nähe zur Sozialdemokratie keine direkte Äußerung zum 12. Februar 1934 kennen) sich zumindest in einem Punkt, den Interessen der Schriftsteller, extrem engagierte, wird angesichts der offenkundigen Missachtung durch die Eltern nachvollziehbar.
Überhaupt die Krankengeschichte Musils! Was bedeutete es damals, im Zeitalter der später als ineffizient verworfenen, quälenden Schmierkuren mit Jod und Quecksilber, Siphylitiker zu sein? Liegt hier die Ursache für jene prinzipielle Übellaunigkeit, die Musil hinter perfekten Manieren verbarg? Hat Musil seine Krankheit weitergegeben und was hat sie mit dem Tod der immer noch unaufspürbaren Herma Dietz zu tun? Generell ist Musils erotisches Leben rätselhaft, doch Corino gelingt eine perfekte Auflösung der Bindung an seine Frau Martha, von der viele persönliche Erinnerungen ein recht negatives Bild zeichnen. Sein Kapitel über Marthas erotisches Vorleben hat literarische Qualität, er erzählt eine involvierende Geschichte, die sich Musil „ästhetisch – moralisch“ angeeignet hat, und zwar so sehr, dass Corino meint, das zweite Buch – die „Vereinigungen“ hätte eigentlich „Die Verwirrungen der Martha Musil“ heißen sollen.
Mit den „Vereinigungen“ hatte sich Musil als – so Corino – „wahrscheinlich langsamster Schriftsteller deutscher Sprache“ etabliert. Das hatte durchaus reale Gründe – private Wirren, Pech mit Verlagen, die politische Lage und während der Arbeit die Jagd nach Geld. Dennoch: Warum war Musil außerstande, den „Urbrei“ des „Mannes ohne Eigenschaften“ zu vollenden? Woher kommt diese offenkundige, als Streben nach ständig neuen künstlerisch-intellektuellen Höhen maskierte, Arbeitsstörung? Musils persönliche Aufzeichnungen sind in zentralen Punkten nichtssagend, doch Corino unternimmt den spekulativen, aber dennoch wertvollen Versuch, herauszufinden, was wohl Thema in Musils Therapie bei dem Individualpsychologen Hugo Lukács und den folgenden Aussprachen mit dem Analytiker René A. Spitz war. Haben die beiden einen Zugang zu Musils tiefer Verschrobenheit, seiner sozial schädigenden Selbstüberzeugtheit und seinen Zwangshandlungen gefunden?
Eine weitere fruchtbare Spekulation zur Ursache der Verzögerung der Fertigstellung des Hauptwerkes liegt darin, dass Musil dem Roman zuliebe allmählich die Berührung mit der Realität weitgehend verweigerte: sein Leben, so Corino, hätte sich nur mehr auf der Ebene des Tagtraums und der Phantasie abgespielt und sei schließlich in einer alles umfassenden Theoretisierung gemündet. Und genau diese Askese des Künstlers, oft eine Arbeitsbedingung, hätte die Arbeit an diesem speziellen Projekt immer mehr erschwert: die Vorbilder der Figuren verschwanden aus dem Leben des Autors oder – noch schlimmer – entwickelten sich anders, als sie es nach den immanenten Gesetzmäßigkeiten der Musil-Welt hätten tun sollen: Rathenau war ermordet worden, die Schwarzwalds flüchteten und Franz „Feuermaul“ Werfel war plötzlich dank einer karrieresüchtigen Gattin eine zentrale Figur des Kulturlebens des Ständestaates. Spätestens ab der Inflation hatten Kakanien und das reale Österreich derart wenig miteinander zu tun, dass die Geschichte der „Parallelaktion“ in das nicht sonderlich geachtete Genre des „historischen Romans“ abzurutschen drohte. Die ungeheure Überfrachtung des Textes mit ständig neuen und durchaus faszinierenden, Versuchen, dem Geschehnis einen theoretischen Rahmen zu geben, protokolliert letztlich Musils Versuch, eine Realität die ihm entglitten war, doch noch zu fassen.
Wenn zwei Bücher zum gleichen Gegenstand in zeitlicher Nähe erscheinen, dann werden sie zwangsläufig aneinander gemessen – auch wenn das, wie im Fall von Herbert Krafts Studie zu Musil möglicherweise ungerecht ist. Corinos Biographie hat einen Standard in der Beschäftigung mit Musil gesetzt, der schwer einzuholen ist. Kraft unternimmt etwas ganz anderes als Corino – er hat eine Art Großessay verfasst, unsystematisch und assoziativ aufgebaut, der letztlich wohl versucht, Musil als eine von dessen theoretisch hochaufgeladenen Figuren zu verstehen. Das zeitigt manchmal überraschende Ergebnisse, scheitert aber letztlich daran, dass die intellektuellen Konstruktionen, die Musil in seiner Prosa entwarf, häufig nachträglich entwickelt wurden und nur teilweise mit seinem Leben kompatibel waren. Corinos Musil ist stärker außengesteuert als der Krafts; für Kraft wiederum gibt es kaum ein Rätsel um Musil. Manches ist für den gewöhnlichen Leser ärgerlich, etwa dass Kraft die Kenntnis der Biographie voraussetzt und gelegentlich bedeutsame Ereignisse erst im Nachhinein erklärt. In einem Punkt ist Kraft allerdings sensibler als Corino: in seiner genauen Schilderung mit welchen Qualen die Siphylis-Therapie verbunden war, der sich Musil unterziehen musste.
Vielleicht kann man die Ungerechtigkeit, die in diesem Vergleich zweier Bücher mit verschiedener Zielsetzung liegt, durch einen Lesetipp ein wenig ausgleichen: man sollte zunächst die Biographie Corinos lesen. Wer dann noch Interesse an einer eigenwilligen Musil-Deutung hat, sollte zu Krafts Buch greifen.