#Sachbuch

Die Flugschau von Brescia

Peter Demetz

// Rezension von Hermann Schlösser

Spannend wie ein Roman, und zugleich gelehrt wie eine Habilschrift: Das wäre ein Ideal, an dem sich kulturhistorische Sachbuchprosa orientieren könnte. Freilich müssen Autoren, die sich diesem Ideal nähern wollen, bewusst und souverän die Grenzlinie missachten, die zwischen Wissenschaft und Literatur von beiden Seiten her gezogen zu werden pflegt. Eine solche Grenzverletzung wird nicht überall geschätzt – und wenn der Versuch misslingt, hinterlässt er tatsächlich ein unschönes „Weder-Fisch-noch-Fleisch-Gefühl“. Gelingt er jedoch, weckt er die Lust an der Wissensvermehrung und befriedigt sie zugleich.

Dem Literaturprofessor Peter Demetz, der lange Jahre in Amerika gearbeitet hat, ist nun ein solches Buch gelungen. Ein Glücksgriff ist schon die Wahl des Themas: In einer romanähnlich aufbereiteten historischen Recherche rekonstruiert Demetz eine Flugschau, die im September 1909 in der oberitalienischen Stadt Brescia abgehalten wurde. Blériot, Curtiss und die anderen Helden der damals neuen „Aviatik“ zeigten über mehrere Tage hin ihr Können, testeten aber auch die Leistungsfähigkeit ihrer Maschinen.

Doch ist dieses Ereignis nicht nur für Technikhistoriker interessant. Kulturgeschichtlich bedeutsam wird es durch einige der vielen Besucher, die sich von den Flugversuchen faszinieren ließen. Ihnen vor allem gilt das Interesse des Autors. Wie er im Vorwort ausführt, folgte er bei der Anlage seines englisch geschriebenen Buches einem berühmten amerikanischen Vorbild: In seinem Roman „Die Brücke von San Luis Rey“ beschrieb Thornton Wilder die Lebensläufe von fünf Personen bis zu dem Augenblick, an dem sie mit der zusammenbrechenden Brücke in die Tiefe stürzten. Analog verfolgt Demetz die Lebenswege derer, die sich aus unterschiedlichen Motiven im September 1909 in Brescia einfanden. Neben den Fliegern selbst waren das vor allem: Der Dichterfürst Gabriele d’Annunzio, der Großkomponist Giacomo Puccini, die einander tunlichst aus dem Weg gingen, weil ihre Beziehungen eher gespannt waren. Warum – das hat Demetz genauestens recherchiert. Neben diesen beiden Ehrengästen befanden sich aber auch drei unberühmte junge Herren aus Prag im Publikum: Die Brüder Max und Otto Brod und ihr gemeinsamer Freund Franz Kafka. Sie machten gerade Ferien in Riva am Gardasee, hörten dort von der Flugschau und ließen sich das Spektakel nicht entgehen.

Sowohl Max Brod als auch Kafka schrieben Artikel über das Ereignis. Kafkas Reportage „Die Aeroplane in Brescia“, am 29. September 1909 in der deutschsprachigen Prager Zeitung „Bohemia“ erschienen, dokumentiert das intensive Interesse, das der junge Autor an allen technischen Neuerungen hatte. Zugleich fehlt dem Text völlig jenes mythologisch aufgeladene „Ikarus“-Pathos, das d’Annunzio in Brescia zur Schau stellte. Kafkas Blick ist neugierig, aber kühl, d‘ Annunzio hingegen glüht vor Begeisterung und Tatendrang. In einem der lustigsten Kapitel des Buches schildert Demetz, wie verzweifelt d’Annunzio sich darum bemühte, mit einem der berühmten Flieger in die Lüfte steigen zu dürfen. Blériot, der unbestrittene Star der Flugschau, lehnte ab, Curtiss, der schließlich den Preis von Brescia errang, fand sich zunächst widerwillig bereit, d’Annunzio zu sich zu nehmen. Das Titelbild des Buches zeigt, wie Flieger und Dichter nebeneinander auf dem Aeroplan sitzen, und es ist nicht zu verkennen, dass Curtiss misslaunig dreinschaut. So ist es vielleicht auch kein Wunder, dass der Flugversuch mit Dichter an Bord scheiterte. Da erbarmte sich schließlich der italienische Offizier Calderara seines Landsmannes, und d’Annunzio kam doch noch zu seinem Lufterlebnis.

Aus dieser Geschichte, die Demetz mit aller gebotenen Ironie berichtet, wird anschaulich klar, dass der Dichter mit all seinem hochfliegenden Pathos auf dem Flugfeld, das von Technikern und Ingenieuren beherrscht wurde, so fehl am Platz war wie jenes berühmte Huhn, das sich in einem Gedicht Christian Morgensterns in die „Bahnhofshalle, nicht für es gebaut“ verirrt.

Peter Demetz erzählt noch vieles über die Flugschau in Brescia. Mag sein, dass er sich ein bisschen zu detailverliebt in seinen Stoff vertieft – doch kann man ja, gerade bei einem Buch zum Thema Aviatik, das eine oder andere Kapitel auch überfliegen. Im Ganzen aber folgt man dem Erzähler gerne auf seiner Reise zu einem Großereignis vergangener Tage. Natürlich hat das Zusammentreffen so unterschiedlicher Geister wie Kafka, d’Annunzio und Blériot nicht die strenge, schicksalhafte Notwendigkeit, die Thornton Wilder seinen tragischen Brückenüberquerern zuschrieb. Demetz lässt eine zufällig zusammengewürfelte Gesellschaft Revue passieren, und es ist einzig der Blick des nachgeborenen Kulturhistorikers, der ihre Lebenswege in einem Ereignis des Jahres 1909 gebündelt und gespiegelt sieht. Ohne Kafkas Zeitungsartikel und ohne das Buch, das Peter Demetz vor allem Kafka zuliebe, darüber schrieb, wäre die Flugschau von Brescia vergessen, wie das meiste, was geschieht. Wenn man sie jedoch doppelt beschrieben sieht, erinnert man sich ihrer mit Vergnügen.

Peter Demetz Die Flugschau von Brescia
Kafka, d’Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen.

Aus dem Engl.: Andrea Marenzeller.
Wien: Zsolnay, 2002.
256 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 3-552-05199-6.

Rezension vom 26.02.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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