#Sachbuch

Der Offene Brief

Rolf-Bernhard Essig

// Rezension von Peter Stuiber

Die vorliegende Dissertation in Buchform ist ein Glücksfall. Hat sich doch jemand entschieden, nicht die 500. Arbeit zum Heimatbegriff bei Thomas Bernhard oder über die „Verwandlung“ von Kafka zu schreiben. Rolf-Bernhard Essig hat seine Doktorarbeit dem „Offenen Brief“ gewidmet, einer literarischen Gattung, die zwar per definitionem zu den öffentlichkeitswirksamsten Textsorten gehört, dennoch von der Germanistik bislang wenig beachtet wurde. Essig legt mit seinem Buch erstmals eine umfassende Darstellung und Analyse des Themas zum deutschsprachigen Raum vor.

Umfassend insofern, als er mehr als 300 offene Briefe als Textgrundlage genau analysiert hat und damit einen Zeitraum von mehr als 2000 Jahren abdeckt. Die Anfänge der Gattung ortet der Verfasser in den Briefen des athenischen Rhetorikers Isokrates, der im vierten Jahrhundert vor Christus dem makedonischen König in einem Schreiben, von dem Kopien verbreitet wurden, Ratschläge für einen großen Siegeszug gegen die Perser gegeben hat. Tatsächlich in umfassenden Maße eingesetzt wird der offene Brief allerdings erst in der Reformationszeit, wobei der Großmeister und Katalysator klarerweise Luther war. „Sein persönliches Eintreten für eine Lehre (…) kam gerade in seinen Offenen Briefen zum Ausdruck, wenn er sich (…) an geistliche und weltliche Würdenträger, ja Könige, den Kaiser und den Papst wandte, andererseits war klarzustellen, daß gegen seine Lehre nur die Kraft der Argumente der Bibel, wie er sie verstand, anerkannt würde und sonst keine andere Autorität.“ (S.76) Erwähnt seien hier nur Luthers „Sendbrief vom Dolmetschen“ und „An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen standes besserung.“ Beobachten läßt sich neben einigen anderen Merkmalen der Gattung bei Luther die Tatsache, daß die Adressaten als jene stilisiert werden, die trotz ihrer Machtposition zu den Verantwortungslosen und Unwissenden gehören.

Im ausgehenden 16. und dem 17. Jahrhundert nimmt der Offene Brief dann eine weniger wichtige Rolle ein (er dient etwa mehr pädagogisch-didaktischen Zielen als politischen, auch wegen der staatlichen Zensur), ehe er im Zeitalter der Aufklärung extreme Popularität erlangt – schließlich war es zugleich die Zeit, in der einerseits enorm viele Zeitungen und Zeitschriften gegründet wurden, andererseits der „normale“ Brief als Gattung aufgrund der verbesserten Zustellungsbedingungen sich immer größerer Beliebtheit erfreut. Wie wichtig die durch offene Briefe ausgelösten Diskurse und Dispute für die Proponenten der Aufklärung – zum Beispiel Lessing und Moses Mendelssohn – waren, läßt sich in dem Buch nachlesen.

Machen wir einen Sprung zu dem Ereignis, den wohl die meisten mit der „epistolaren Publizistik“ (ein etwas gestelzter Begriff) verbinden: dem „J’accuse“ von Emile Zola. Essig beschreibt das politische wie publizistische Umfeld, in dem der offene Brief an den Präsidenten der Republik erschien, und welche Auswirkungen er auf Deutschland hatte. Des Autors Urteil: Seit Zola kann man eine Einengung der Gattung beobachten, der offene Brief wird zunehmends ausschließlich als ein politischer Aufruf eines Intellektuellen zugunsten von Menschenrechten etc. wahrgenommen, wenn es auch daneben noch immer andere Formen des offenen Briefes gibt.

Den Schwerpunkt seiner Arbeit widmet der Verfasser dem deutschen offenen Brief im 20. Jahrhundert. In diesem Rahmen sei hier nur kurz auf zwei herausragende Beispiele verwiesen: Thomas Mann distanzierte sich in seinem Brief an die Universität Bonn, die ihm die Doktorwürde aberkannt hatte, vom nationalsozialistischen Deutschland und bekannte sich explizit zum Exil, was nicht nur den deutschen Exilanten in aller Welt deutlich Auftrieb gab, sondern auch die Welt dazu veranlaßte, eine andere deutsche Öffentlichkeit als die nationalsozialistische endlich wahrzunehmen. In der Nachkriegszeit wiederum waren es bekanntermaßen Günter Grass und Heinrich Böll, die mit ihren offenen Briefen regelmäßig Stellung bezogen.

Essig liefert in seiner Arbeit nicht nur historisch interessantes Material, sondern bemüht sich auch um eine Definition der Gattung. Welche Topoi, welche stilistischen Kniffe der offene Brief hat, wie er sich gegenüber anderen publizistischen Formen oder dem privaten Brief abgrenzt, das alles erfährt man in der wissenschaftlichen Arbeit. Nur kurz eingegangen wird auf den offenen Brief in unserer Zeit, in der bekanntlich immer weniger Briefe geschrieben werden und in der der „offene Brief“ in seiner „klassischen Form“ (sofern es die überhaupt gibt) möglicherweise schon bald obsolet werden wird. Interessant ist Essigs Analyse in jedem Fall – und ein mutiger Versuch, eine Schneise durch ein bislang wenig erforschtes Gebiet zu schlagen.

Rolf-Bernhard Essig Der Offene Brief
Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000.
407 S.; geb.
ISBN 3-8260-1647-5.

Rezension vom 19.11.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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