#Lyrik

Nachwasser

Frieda Paris

// Rezension von Martin Peichl

Notizen zu Frieda Paris Nachwasser

Schon seit Wochen blättere ich immer wieder in Nachwasser von Frieda Paris. Das Buch liegt gut in der Hand, nicht zu leicht, nicht zu schwer, lesend streife ich von Seite zu Seite, und mit jeder weiteren Kontaktaufnahme habe ich das Gefühl, neues Material zu entdecken. Als hätte sich der Text über Nacht weitergeschrieben, als wären ihm ein paar neue Zeilen gewachsen: „jederzeit könnt ihr den Text verlassen, pausieren, / oder wiederkehren, entgegen meinen Nummerierungen“ (S. 8) – eine Aufforderung, der ich gerne nachkomme.

Ich mag Texte, die das Schreiben selbst zum Thema machen („ein Ausrufezeichen an all jene, die mich gefragt haben, / ob ich denn je etwas anderes schreiben würde, / als über das Schreiben“, S. 8), das muss ich vielleicht dieser Besprechung vorausschicken. Vielleicht noch, dass ich – wie die Autorin – Friederike Mayröcker nicht nur gelesen habe, sondern bis jetzt auch in allen meinen Büchern zitiert habe. Jedenfalls konnte ich beim Lesen von Nachwasser einen Gedanken nicht abschütteln: dass ich vielleicht das Zielpublikum bin für diesen Text. Dass ich ihn deshalb so gerne immer wieder in die Hand nehme.

Nachwasser ist ein Langgedicht, das lyrische Ich „immer auf der Suche nach Verbindung“ (S. 104). Neben Mayröcker werden auch andere Autor:innen zitiert (die entsprechenden Passagen sind kursiv gesetzt): Sarah Kirsch, Mary Ruefle oder Eugen Gomringer, „das lange Gedicht macht Platz für Nachbarschaften“ (S. 120). Wer möchte, kann diesen intertextuellen Fährten („ich glaube an Bezugnahme und Montage“, S. 35) nachspüren. Dass der Text von ihnen bereichert wird, steht außer Frage, er würde aber genauso gut ohne diese Querverweise funktionieren.

Ein Zitat erscheint mir dann aber doch verhältnismäßig wichtig für meine Annäherung an Nachwasser, wenn mit Mayröckers Worten eine Art Mission Statement formuliert wird: „ein Buch schreiben, / welches man nicht nacherzählen kann“ (S. 18). So viel wird schon nach wenigen Seiten klar: Wir haben es mit einem Text zu tun, der Sprache und Form in den Vordergrund rückt, seine eigene Poetologie mitschreibt und mitliefert: „dass dieses erste Buch, an dem ich schreibe, / eines wird, das vorwiegend aus Texten besteht, / die ich bereits gedacht habe oder verstreut, / dass es ein poetologisches Buch sein wird“ (S. 17).

An anderen Stellen geht es um die Frage nach der Begehbarkeit von Texten: „das lange Gedicht ist begehbar, erlaubt Rast / und Aufbruch“ (S. 120). Vielleicht trägt auch diese besondere Qualität dazu bei, dass man für ein wiederholtes Lesen von Nachwasser belohnt wird, weil es verschiedene Strecken und Wege durch den Text gibt, er zum Wandern einlädt, man dabei unterschiedlichen Stimmungen und Wetterlagen ausgesetzt ist: „manchmal denke ich in Wettern“ (S. 83).

Auch kann ich als Leser der folgenden Aussage des lyrisches Ichs (oder spricht hier die Autorin?) viel abgewinnen: „möchte euch zu tun geben, / statt nur zu unterhalten“ (S. 8). In meinen Augen: eine sehr schöne Beschäftigung, einem Text durchs Lesen beim Wachsen zuzusehen, überhaupt: sich mit einem Text auseinanderzusetzen, der in hohem Maß mein Mitmachen und Mitgestalten einfordert („ohne Gegenüber / atmet / das Gedicht nicht“, S. 25). Frieda Paris gelingt es, die Nahtstellen zu thematisieren, die mit der Produktion von Texten einhergehen, dass Schreiben sehr viel mit Zerschneiden und Zusammensetzen gemeinsam hat. Dass fertige Bücher oft das Ergebnis einer aufwändigen Bastelarbeit sind, einer millimetergenauen Tätigkeit.

Nachwasser ist ein „Text mit Fäden“ (S. 93), vielleicht sind es auch Fächer, Schubladen, um das Bild des Archivs aufzugreifen, das auch Frieda Paris verwendet, aus dem unter anderem eine der schönsten Metaphern im Buch entsteht, nämlich für die Art von Einsamkeit, die vor allem Schreibende kennen: „in Archivboxen liegen und darauf warten / bearbeitet zu werden“ (S. 38). Dazu passend auch die folgende Stelle, die indirekt an uns Lesende gerichtet ist: „nicht alle Funde zum Fund erklären, / davon ausgehen, nicht alles einordnen oder / entziffern zu können“ (S. 64). Ich denke: Was für ein Glücksfall, einen Text beim ersten Lesen nicht vollständig erfassen zu können, mit einem Text konfrontiert zu werden, der sich selbst als Überangebot versteht.

Ebenso habe ich mich über die Erwähnung des Brettspiels Die Maulwurf Company gefreut, das auch ich mit regnerischen Tagen in meiner Kindheit verbinde. Für alle, die mit dem Regeln nicht vertraut sind, hier die Kurzversion: Die Spieler:innen versuchen mit ihren Maulwurf-Figuren durch verschiedene Schichten Erdreich zu graben, um vor allen anderen die „Goldene Schaufel“ zu erreichen. Auf Nachwasser umgelegt, ist es nicht schwer, in dem Spiel eine passende Metapher für den Prozess des Schreibens zu sehen, für die Arbeit mit Archiven, für den Umgang mit Fremdmaterial: „in eine Sprache spuren, aus ihr heraus, ab und an auch in Widerspruch mit dem Material treten“ (S. 58).

Nicht zuletzt ist Frieda Paris’ Langgedicht auch ein Text über Abwesenheit („immer dieses Verabschieden“, S. 20), über Leerstellen („ebenso fühle ich mich hingezogen, zu allem, was fehlt“, S. 23) und über die verschiedenen Ausprägungen von Einsamkeit, die das Schreiben begleiten („vielleicht schreibe ich nicht nur auf etwas hin, sondern von etwas weg, etwas wie Alleinsein“, S. 36). Das abwesende Gegenüber wird im Text zur unbestimmten Variablen: „mit dem Du im Text ist es / wie mit dem lyrischen Ich, / Du ist keine Person / Du ist die Summe / aller Verlassenen, Verlassenden“ (S.48).

Ich möchte noch eine Stelle zitieren, die mich beschäftigt, seit ich sie das erste Mal gelesen, seit ich sie das erste Mal unterstrichen habe: „manchmal fallen Rückseite und Vorderseite zusammen“ (S. 121). Ich denke daran, wie viel Schreibarbeit unsichtbar bleibt, weil das fertige Buch (die Vorderseite) nur einen Teil davon abbildet, wie viel Arbeit am Schneidetisch (um es mit den Worten von Frieda Paris zu sagen) passiert und dadurch kaum sichtbar wird. Aber manchmal fallen Rückseite und Vorderseite zusammen, dann bekommt man einen Text wie Nachwasser und einen kleinen Einblick in die Beschaffenheit, in die Anatomie und Geografie von Literatur.

Um zu einem Ende zu kommen, zu einem Schluss: Ich habe Nachwasser mit großer Freude, aber auch mit großer Bewunderung gelesen. Wobei: Die Vergangenheitsform hier ist irreführend. Ich werde auch in Zukunft immer wieder gerne darin lesen, bin schon gespannt, was ich noch alles finden werde in diesem reichhaltigen, in diesem wachsenden Archiv. Und möchte abschließend noch einmal den Text zitieren, nur minimal abgewandelt: „es ist natürlich Unsinn, dass [ein Text] endet, / weil der Mund Ende sagt, wo er doch lieber bleib / sagen möchte“ (S. 16).

Homepage von Martin Peichl

Frieda Paris Nachwasser
Langgedicht.
Berlin/Dresden: Voland & Quist/Edition Azur, 2024.
136 Seiten, Klappenbroschur.
ISBN 9783942375696.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 26.08.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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