#Sachbuch

Leo Perutz

Brigitte Forster, Hans Harald Müller (Hg.)

// Rezension von Michael Hansel

Leo Perutz, 1882 in Prag geboren und ab 1899 in Wien lebend, war zunächst ein sehr erfolgreicher, dann ein fast völlig vergessener Schriftsteller, dessen Bedeutung erst allmählich wieder erkannt wird. Denn sowohl literarische Öffentlichkeit als auch Literaturwissenschaft rezipierten bislang Perutz‘ Werke wie „Der Marques de Bolibar“ (1920), „Der Meister des jüngsten Tages“ (1923), „Turlupin“ (1924) oder seinen wohl bedeutendsten Roman, „Nachts unter der steinernen Brücke“ (1953), unter dem zu kurz greifenden Begriff der „phantastischen Literatur“. Erst Ende der 80er Jahre erfolgte durch intensivere Forschungsarbeit ein Erkenntnisschub, der die Vielschichtigkeit der Texte und die formale Gestaltungskraft des ausgebildeten Versicherungsmathematikers aufzeigen konnte.

Passend zum 120. Geburtstag von Leo Perutz erschien nun im Sonderzahl Verlag eine weitere wissenschaftliche Studie über den Autor, herausgegeben von Brigitte Forster und Hans Harald Müller, der bereits 1992 eine Monographie zu Perutz veröffentlichte. Der vorliegende Band versammelt die Beiträge von in- und ausländischen Literaturwissenschaftern zum zweiten internationalen Perutz-Symposium, das vom 20. bis 23. September 2000 in Wien und Prag abgehalten wurde. Die Publikation bietet auf 260 Seiten einen Querschnitt zum aktuellen Forschungsstand, dessen Schwerpunkt offenbar in Perutz‘ Erzählkonzeptionen und in der strukturellen Mehrdeutigkeit seiner Romane und Erzählungen liegt. Sigurd Paul Scheichl beispielsweise sieht als besondere ästhetische Qualität der Werke Leo Perutz‘ die artifizielle Erzählsituation und spricht von fast experimentellen Erzählanordnungen. Und gerade der analytische Erzählaufbau und die seinen Texten eigene Rahmenstruktur, „in welcher das Ende der Hauptgeschichte in der Erzählgegenwart eines (fiktionalen) Vorwortes vorweggenommen [ist], aber zugleich auch als erklärungsheischendes Rätsel präsentiert wird“ (S.116), machen begreifbar, daß es sich bei Perutz‘ Arbeiten nicht um (in der Literaturkritik oft negativ konnotierte) niveauvolle Unterhaltungsliteratur, sondern um spannungsreich konstruierte literarische Kunstwerke handelt.

Seine historischen Romane brachten den österreichisch-jüdischen Autor zwar oft in die Nähe der Trivialliteratur, bezeugen aber ebenso seine kritische und (gesellschafts-)politische Auseinandersetzung mit der geistig so spannungsvollen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, dem Zerfall des Habsburger Reiches und dem Chaos der Ersten Republik. Bettina Clausen weist in ihrem Aufsatz auf Perutz‘ gründliche historische Vorarbeiten hin und vermutet, „daß Perutz dem elaborierten zeitgeschichtlichen Subtext […] ein weit stärkeres Gewicht beimaß, als es dann deren Leserschaft tat, die sich, soweit wir wissen, vornehmlich von den fesselnd erzählten Geschicken der Hauptfiguren unterhalten ließ.“ (S. 52)

Den Werken eignet also eine Vielfalt von Lesarten und Interpretationsmöglichkeiten. Die Handlungen öffnen sich dem Metaphysischen ebenso wie der tiefenpsychologischen Analyse, und der Schriftsteller, der so konsequent dem Zusammenhang zwischen Traum und Wirklichkeit, Phantasie und Realität und den Grenzbereichen menschlicher Erfahrung nachging, scheint nun auch sozialgeschichtlich Bedeutung zu erlangen. Vor allem dann, wenn seine historischen Geschichten im kulturellen Kontext seiner Zeit gelesen werden. So meint Wendelin Schmidt-Dengler: „Daß Perutz in seinen Texten leicht erkennbare Zeitbezüge ausklammert, ist kein Beweis dafür, daß er seine Epoche nicht wahrgenommen hätte; ebensowenig läßt sich aber daraus folgern, daß in diesem Werk nicht auch die historischen Vorgänge in eigentümlicher Transformation erkennbar sind.“ (S. 16)

1938 muß Leo Perutz mit seiner Familie nach Tel Aviv flüchten. Seinen dort fertiggestellten Roman „Meisls Gut“, der später als „Nachts unter der steinernen Brücke“ in der Frankfurter Verlagsanstalt erscheinen sollte, versuchte er 1951 bei seinem Verleger Paul Zsolnay unterzubringen. So geschätzt und viel gelesen er in der Zwischenkriegszeit war, so schwer hatte es der Autor nach dem Krieg in Wien wieder Fuß zu fassen. Zsolnay lehnte mit der Begründung ab, die deutsche Seele habe sich Werken jüdischen Geistesguts noch nicht wieder geöffnet. Dem Verlag schien das Thema angesichts des latenten Nachkriegs-Antisemitismus nicht geeignet. „Die Enttäuschung von Perutz über die Ablehnung von Meisls Gut“, schreibt Murray G. Hall in seinem Beitrag, „blieb eine kurze Episode in den sonst freundschaftlichen Beziehungen zwischen Autor und Verleger. Bis zum Tod Perutz‘ waren Treffen mit Paul Zsolnay ein Fixpunkt bei seinen Österreich-Besuchen.“ (S. 141)

Mit der vorliegenden Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze zu Leo Perutz liegt kein leicht verdaulicher Lesestoff vor; das heißt jedoch nicht, daß er ausschließlich der Fachwelt vorbehalten bleiben muß. Eine Studie dieses Bandes kann auch Perutz-Freunden und interessierten Lesern die Möglichkeit bieten, den Erzähler und die „phantastischen und historischen“ Handlungen seiner Werke aus einer gänzlich neuen Perspektive zu erkunden und Qualitäten zu entdecken, die einem bislang verborgen blieben. Auch wenn man sich erst an den von einigen Autoren zuweilen übertriebenen Wissenschafts-Jargon gewöhnen muß und gelegentlich auf derart abstruse Erläuterungen stößt wie: Der ‚Vorbericht‘ enthält eine Prolepse, d. h. er nimmt das Ende der Hauptgeschichte bereits vorweg; anders als in Derrick-Krimis mit ihrer Hysteron-Proteron-Struktur wird hier allerdings nicht Früheres später erzählt, sondern Späteres früher [sic!]. (S. 110)

Das akademische Interesse an Leo Perutz dürfte den Dichter und sein Werk nun endgültig in der österreichischen Literaturgeschichte verankert haben und ihn in eine Reihe mit Autoren der altösterreichischen, am habsburgischen Erbe orientierten Literatur stellen. Viel Rätselhaftes von Perutz‘ Erzählstrukturen und Dimensionen seiner Lektüren scheint mit diesem Band aufgeklärt – oder doch nicht? Nicht nach Perutz selbst, denn „das ist ja alles wieder nur Theorie. Praktisch gesprochen, könnte ich es kaum anders sagen als: ich bemühe mich immer, so zu schreiben, wie meine Großmutter mir Geschichten erzählt hat.“ (S.260)

Brigitte Forster, Hans Harald Müller (Hg.) Leo Perutz
Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung.
Wien: Sonderzahl, 2002.
260 S.; brosch.
ISBN 3-85449-197-2.

Rezension vom 29.07.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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