Riegers Rundgang nimmt seinen Ausgang dort, wo am Beginn der Neuzeit mit dem Verlust der Totalität des Buches / der Heiligen Schrift die Bibliothek an Komplexität zunimmt, wo sich ihre Aufgaben verändern und diversifizieren und sie damit an Faszination gewinnt. Das impliziert nicht nur qualitative, sondern auch quantitative Sprünge. Mittelalterliche Klosterbibliotheken hatten selten mehr als 300 Bände, noch im 15. Jahrhundert sind Büchersammlungen jenseits der Tausendermarke – wie jene Pico della Mirandolas mit 1190 Bänden – die Ausnahme. Ihren Eintritt in die fiktionale Literatur erlebt die Bibliothek daher erst vergleichsweise spät.
Anhand der Bildtradition „Der heilige Hieronymus im Gehäuse“ entwickelt Rieger die allmähliche Herausbildung der Studier- und Gelehrtenstube hin zur Bibliothek. Voll ausgeformt finden wir sie dann in Montaignes Bibliothek im Turmzimmer. Mit dem freien Rundblick auf die Welt draußen ist sie Symbol der notwendigen Absonderung und zugleich der inhaltlichen Öffnung der Bibliothek für die reale Außenwelt, wie sie sich im Anwachsen der naturwissenschaftlichen Buchbestände manifestiert.
In der Folge analysiert Rieger Ausformung und Funktion der fiktionalen Bibliothek in literarischen Utopien ebenso wie den Symbolwert brennender Bibliotheken als Ausdruck der Subversion von Machtstrukturen, Befreiung von livresker Obsession (wie in Don Quijote) oder auch notwendiger Modernisierungsschübe. Das komplexe Verhältnis von fiktionaler Bibliothek und Kanonbildung wird deutlich in der vielfach gebrochenen Ambivalenz der Bibliotheks-Metapher von der Romantik bis zum Ästhetizismus. Die Tradition der Bildvorstellung Bücherschlacht im Schlachtfeld Bibliothek wird dabei ebenso betrachtet wie die ins 6. Jahrhundert zurückreichende Figur des geistlosen Büchersammlers, der von den Inhalten gänzlich abstrahiert. Eine besondere Ausformung erlebt dieser Typus des Bibliomanen in der literarischen Moderne um 1900 in der aristokratischen Bibliothek des Dandy (wie etwa bei Huysmans), die ihre gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit verkündet, „indem sie den subjektiven Bezug gegenüber der Bindung an die Wirklichkeit […] durch ihre bibliophile und ästhetizistische Bestimmung verabsolutiert“ (S. 373).
Die literarischen Beispielreihen entnimmt Rieger überwiegend der französischen und italienischen Literatur, was für den deutschen Leser eine spannende Ergänzung zu den Arbeiten von Klaus Döhmer oder zuletzt Günther Stocker ergibt. Für die oft ausführlichen Originalzitate nützlich ist die Kenntnis zumindest einer romanischen Sprache. Überhaupt verlangt die Lektüre aufgrund der Häufung sehr langer, komplexer Satzperioden dem Leser einiges an Disziplin ab. Bedauerlich ist der Verzicht auf eine Literaturliste im Anhang, Literaturhinweise müssen so etwas mühsam dem üppigen Fußnotenapparat entnommen werden.