#Sachbuch

Ach, Neigung zur Fülle

Christiane Caemmerer, Walter Delabar (Hg.)

// Rezension von Walter Wagner

Literarisches Schaffen, so Christiane Caemmerer im Vorwort, wird bis heute im Lichte zweier einander polarisierender Thesen begriffen, die das Sprachkunstwerk entweder als Produkt des eigenständigen, von jeglichen intertextuellen Einflüssen verschonten Original-Genies betrachten oder eines auf Nachahmung und Übung fußenden schöpferischen Aktes einstufen. Dieses Postulat, das literarisches Schreiben ohne Rezeption von Prätexten ausschließt, ist der vorliegenden Monografie als conditio sine qua non eingeschrieben. Welche Spuren die Lektüre oder ferne Berührung mit der Literatur des Barock im Oeuvre deutschsprachiger Autoren nach 1945 hinterlassen hat, wird in dreizehn Aufsätzen facettenartig untersucht.

Den Auftakt bildet Jan Bürgers Beitrag zu Hans Henny Jahnn, der über Keplers Harmonices mundi und eine ihm eigene Faszination für Orgeln einen Zugang zum harmonikalen Weltbild des Barock fand. Vor allem sein Roman Fluss ohne Ufer reflektiert die intensive geistige Auseinandersetzung mit dieser vom Dreißigjährigen Krieg zerrütteten Epoche, die augenscheinlich Parallelen mit dem Deutschland vor 1945 aufweist. In Jahnns Diktum „Es ist wie es ist, und es ist fürchterlich“ klingt daher auf fatale Weise das 17. Jahrhundert der Marodeure und Brandschatzer nach.

Michael Fisch setzt sich in seiner Studie mit Hubert Fichtes Rezeption des literarischen und musikalischen Barock auseinander und nimmt insbesondere Bezug auf Daniel Casper von Lohenstein, dessen Trauerspiele Agrippina und Ibrahim Bassa der Schriftsteller bearbeitet, womit er zu einer Renaissance des Barockdichters beiträgt. Fichtes Vorliebe für die Literatur der Frühen Neuzeit kristallisiert in der bekenntnishaften Apologie: „Deutsche Literatur ist für mich barocke Literatur.“

Dem Romancier, Essayisten und Lyriker Wolf von Niebelschütz widmet sich Detlef Haberland, der in seinem Monumentalwerk Der Blaue Kammerherr deutliche Bezüge zu barocken Vorbildern erkennt. Was die Literaturwissenschaft dabei beschäftigt, ist die Frage, wie der von 1942 bis 1947 entstandene galante Roman völlig immun gegen die historischen Ereignisse im damaligen Deutschland bleiben konnte. Haberland erklärt diesen sonderbaren Umstand damit, dass angesichts der bedrohten menschlichen Gattung Einzelschicksale bedeutungslos würden. Dieser Interpretation liegt die von Niebelschütz vorgetragene Auffassung vom Wesen barocker Kunst zugrunde: „Das Heraustreten der Kunst aus dem Einzelnen ins Allgültige.“

Hans Magnus Enzensbergers Adaption von Molières Misanthrope unterzieht Helga Meise einer eingehenden Betrachtung. Exemplarisch zeigt sie Übergänge vom Misanthrope zum Menschenfeind auf, wobei formale und inhaltliche Umakzentuierungen sichtbar werden. Der von Enzensberger in saloppes Deutsch gekleidete Menschenfeind kreist nicht um den „Charakter“ seiner Hauptfigur, sondern um die Bedingungen, die ihn zum Scheitern verurteilen. Als politisch engagierter Schriftsteller legt sich der wahrheitsliebende Alceste mit dem Staat an und verliert. Dass Helga Meise Molière, der in französischen Literaturgeschichten als Klassiker figuriert, dem Barock zuordnet, weist weder die Autorin noch die Herausgeber als Kenner der Literatur des Nachbarlandes aus.

Burkhard Moenninghoff befasst sich mit Günter Grass‘ Butt, in dem barocke Intertexte leicht auszumachen sind. Nachweislich las Grass nicht nur barocke Dichter wie Simon Dach, Martin Opitz und Andreas Gryphius, sondern recherchierte auch in einschlägiger Sekundärliteratur. An den Erträgen germanistischer Forschung inspiriert, baute Grass die fiktive Begegnung zwischen dem kranken Martin Opitz und dem jugendlich-frischen Andreas Gryphius in die ausufernde Fabel ein. Zitate der beiden letztgenannten Dichter sind wie selbstverständlich im Butt eingestreut und unterstreichen den „Bibliothekscharakter“ von Grass‘ Roman.

„Barock bei Bobrowski?“ lautet der Beitrag von Andreas Thomasberger. Abermals ist von Simon Dach die Rede, und zwar im Roman Levins Mühle. Trotz biografischer Hinweise auf die historisch belegte Figur lässt sich, so der Verfasser, „keine konstituierende Bedeutung für das Sinngefüge“ in diesem, aber auch anderen Texten Bobrowskis ausmachen, denn der Fundus barocker Literatur bietet dem Nachkriegsautor „lediglich stoffliche Anlässe“.

Guillaume van Gemert unterzieht Henning Boëtius‘ Schönheit der Verwilderung einer eingehenden Prüfung. In diesem Roman verfasst der Autor eine vie romancée des Frühverstorbenen Johann Christian Günther, der einige spätbarocke Liebeslieder und Gedichte hinterlassen hat. Boëtius muss sich bei der Vorlektüre für seinen Künstlerroman auf Goethe und vor allem Wilhelm Krämers Biografie gestützt haben. Leerstellen wurden von der Imagination virtuos aufgefüllt. In Boëtius, der eine profunde literaturwissenschaftliche Vorbildung aufweist, hat sich so der „Glücksfall“ einer professionellen Rezeption realisiert, die unter den Nachkriegsschriftstellern ihresgleichen sucht.

Wer über Barockdichtung spricht, darf den polyglotten Nachkömmling H. C. Artmann nicht übergehen. Da wären zunächst seine fünfundzwanzig Epigramme der Vergänglichkeit & Aufferstehung der Schäfferey zu nennen. Zwar werden die Themen des Barock – Tod und Leben, Liebe, Vergänglichkeit und Auferstehung – aufgegriffen, doch werden sie bei Artmann metaphorisch erweitert. Der Mensch kocht als Kessel auf dem Feuer; der Tod wird bezeichnenderweise als Mausefalle dargestellt. Mit den Treuherzigen Kirchhofgedichten schlägt der Österreicher einen Bogen zu den Kirchhoffs-Gedanken des Andreas Gryphius, dessen Stilprinzipien er sich zu Eigen macht. Insgesamt „mag man Artmann in einigen seiner Texte zurecht als einen adäquaten Nachfahren von Beer, Kuhlmann & Co. feiern“.

Burghard Damerau begibt sich bei Thomas Bernhard auf barocke Spurensuche und entdeckt bereits in seiner frühen Prosa den Topos vom theatrum mundi. In den Theaterstücken macht er transzendenzlose Vergänglichkeit, typische Rituale, fürstliche Machtpositionen, Fallhöhen, Profanieren, zeitgebundene Schicksalsdramatik, Schlusskatastrophen, virtuos überreizten Stil sowie das Motiv vom Tod und dem Mädchen als Elemente barocker Bühnenkunst fest. Ob Bernhard, der der Intertextualitätsforschung immer noch Rätsel aufgibt, seine barocken Lehrmeister lediglich zitiert – Damerau nennt Madame de La Fayette, Molière (beide französische Klassik!), Cervantes und John Donne – oder tatsächlich einer statarischen Lektüre unterzogen hat, bleibt offen.

Heimito von Doderer gesellt sich zu den bisher Erwähnten als weiterer Vertreter neobarocker Literatur. Sein Roman Ein Umweg knüpft mit der Frage von Freiheit und Notwendigkeit, von Abenteuer und Schicksal inhaltlich an die frühneuzeitliche Erzählliteratur an. Er entspricht dem Typus des pikaresken Bekehrungsromans von der Art des Simplicius Simplicissimus, in dem sich des Helden Schicksal auf abenteuerlichen Irrfahrten erfüllt. Wie der Verfasser dieses Aufsatzes, Andreas Solbach, treffend bemerkt, darf der Protagonist Manuel Cuendas als „Nachfahre des Don Quijote“ bezeichnet werden.

Ernst Jandls Sprechoper Aus der Fremde wird von Bodo Plachta vorgestellt und hinsichtlich ihrer Nähe zu barocken Modellen befragt. Vor der Folie von Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächsspielen beschwört der Autor ein wenig überzeugendes Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden Dichtern, das er mit Jandls Hinweis auf den für seine Sprechoper verbindlichen stilo recitativo zu begründen sucht.

Im vorletzten Kapitel liefert Winfried Jung interessante „Beispiele zur Vergegenwärtigung des Barockzeitalters im Kinder- und Jugendbuch“. Wie er betont, macht der Anteil barocker Literatur in gängigen Literaturgeschichten nur fünf Prozent des gesamten Umfangs aus, was eine Vermittlung dieser Epoche naturgemäß erschwert. Anhand von zwei Jugendbüchern zeigt der Verfasser auf, dass über Umwege der Zugang zu einer nicht zuletzt aufgrund sprachlicher Differenzen durchaus sperrigen Literatur möglich ist. Irene Ruttmanns Der Goldmacher versetzt die Leser an den Hof des Prinzen von Homburg zurück. In der Geschichte soll eine Schülergruppe ein Stück aufführen, das sich im Schloss des Barockfürsten zuträgt. Aus der Auseinandersetzung mit dem autoritären Gefüge jener Gesellschaft entwickelt sich ein Konflikt, der schließlich dazu führt, dass die Schüler das Stück in eine zeitgemäße Fassung umschreiben.

Tilman Röhrigs In dreihundert Jahren vielleicht spielt im Dreißigjährigen Krieg und erzählt die Geschichte des 15-jährigen Jockel und seiner Katharina, die inmitten politischer und sozialer Wirren ihre erste Liebe erleben. Um dem Roman historisches Kolorit zu verleihen, zitiert der Autor die ersten 176 Verse von Martin Opitz‘ Trostgedichten in Widerwärtigkeit des Krieges.

Zu guter Letzt fasst Walter Delabar die Ergebnisse der Rezeptionsforschung zusammen und stellt im Hinblick auf die deutschsprachige Literatur nach 1945 fest, dass Barockliteratur kaum wahrgenommen wird, wobei der Roman fast völlig in Vergessenheit geraten ist. Lediglich die Tradition des Schäferromans ist lebendig geblieben. Schon die Epochenbezeichung erweist sich laut Adorno als höchst fragwürdig. Der banalisierte und missbräuchlich verwendete Barockbegriff dient in Wahrheit „der Behebung der Modernisierungsschäden“. Auch Walter Benjamin weist auf die Nivellierung eines vielschichtigen Konzepts hin und ortet in der Hinwendung zum Barock die unbestimmte Sehnsucht nach der Vergangenheit. Paradox an der aktuellen Barockrezeption mutet die Tatsache an, dass die Literatur des 17. Jahrhunderts relativ moderne Züge aufweist, d. h. „vergleichsweise wenig barock“ ist. Zugleich denunziert Delabar die Lesegewohnheiten moderner Autoren: „Eigentlich niemand, der einen Roman des 20. Jahrhunderts als barock bezeichnet, hat je selbst einen Roman des Barock tatsächlich gelesen, der ähnliche Eigenschaften wie die apostrophierten hat.“ Somit bleibt die sogenannte Barockrezeption in diesem Genre realiter eine Chimäre.

Christiane Caemmerer, Walter Delabar (Hg.) Ach, Neigung zur Fülle
Zur Rezeption „barocker“ Literatur im Nachkriegsdeutschland.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001.
259 S.; brosch.
ISBN 3-8260-1571-1

Rezension vom 16.09.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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