Auf diese Fragen laufen mehr als ein Dutzend kurzer Beiträge hinaus, die Sozial- und Geisteswissenschaftler, Historiker und Politiker beim Canetti-Symposium in Rousse (Bulgarien) vorgetragen haben und die im vorliegenden Band abgedruckt sind. Behutsam werden dafür anhand von Rekonstruktionen der Geschichte und Analysen der Mythen und Theorien Antworten zur Diskussion gestellt, die oft auch abseits von tagespolitischen „Gewissheiten“ Aspekte und Möglichkeiten zu Tage fördern.
Zentriert sind die Vorschläge zum einen durch den Themenschwerpunkt „Pulverfass“, der allen Distanzierungsstatements zum Trotz ausgerechnet diese Sichtweise auf die Balkanländer provoziert. Zum anderen sind die LeserInnen eingeladen, die Beiträge mit Blick auf Canettis theoretische Arbeit, insbesondere seinen Nationenbegriff und die „Massensymbole der Nationen“ zu lesen. Für eine derartige Lektüre werden im ersten Teil einige wichtige Thesen aus „Masse und Macht“ angegangen, die auf ihre Aktualität, Legitimität und Herkunft geprüft werden.
Es versteht sich von selbst, dass diese Beiträge mit den balkanspezifischen Essays und Analysen nicht so einfach zu verknüpfen sind: zudem Canettis Schriften vor allem den Zusammenhang mit der k. k.Monarchie, dem Nationalsozialismus oder aber auch mit der Apartheidpolitik Südafrikas nahelegen, bei der Auseinandersetzung mit dem Balkan hingegen das 18. und 19. Jahrhundert und dann erst wieder die letzten Jahre des Jahrtausends ins Blickfeld gesetzt werden.
Jetzt erweist sich aber bereits hier – in der Auswahl von historischen und ideologischen Versatzstücken – Canettis theoretische Arbeit als klärend: Dem „heilsgeschichtlichen Zielgerichtetsein einer Kausalität der nationalen Entwicklung“ fällt denn auch gewissermaßen der vorliegende Band anheim. Warum sonst können jene Jahrzehnte derart großzügig übergangen werden, in denen der Balkan eben nicht selbsttätig in die Luft ging, sondern sich gegen Sowjetunion und Nationalsozialismus zur Wehr setzte? Wieso muss eine bestimmte Art des kulturellen und religiösen Zusammenlebens, einer Politik als „gescheitert“ abgetan werden, wenn sie auf gewalttätige Art abgeschafft wird? Könnte das „Ende“ dessen, was als „Experiment“ etikettiert wird, nicht auch ein vorläufiges sein?
In diesem Sinne findet Canettis „Kausalität des Geschehenen“, durch die jeder Krieg erklärt und hinterrücks gerechtfertigt werde, wie Penka Angelova und Peter Horn im theoretischen Teil auf spannende Weise referieren, im 2. Teil ihre praktische Bestätigung. Allerdings – und darin liegt sicherlich ein großer Gewinn des vorliegenden Bandes – erweisen sich die Beiträger als völlig unterschiedlicher Herkunft: nicht nur geographisch, sondern auch ideologisch. Dementsprechend finden sich neben gängigen auch kritische Aspekte, neben „heilsgeschichtlichen“ auch utopische Ansätze, neben postmodernistischen auch politisch praktische.
So gerieren sich die einen als Anhänger der Huntington-Theorie, die bei „tiefen kulturellen Unterschieden“ die Weltkriege bereits im Anmarsch sehen und damit bereits prophylaktisch jeden Akt der Gewalt legitimieren. Dabei bleiben sie einem nationalitätskonzentrierten Blick verhaftet, der insbesondere für den Balkan nicht einmal die Idee von Frieden aufkommen lässt.
Auf der anderen Seite betonen ForscherInnen mit Perspektiven aus der Lebenswelt und in sie hinein die sozialintegrativen Kräfte, die auch heute noch innerhalb denkbar schwieriger Rahmenbedingungen am Werk sind, und führen das Stigma „Pulverfass“ ad absurdum. Dabei besticht besonders der Beitrag des Popperverfechters Vihren Bouzov, weil er den Zusammenstoß von besonders verschiedenen Kulturen als produktiv und bereichernd verstanden wissen will, gleichzeitig die Gemeinsamkeiten der Menschen auf dem Balkan hervorhebt und damit endlich den Blick für eine würdevolle Zukunft Südosteuropas freigibt!
Jedenfalls werden sowohl in den historischen als auch in den zeitgeschichtlichen Beiträgen verschiedenste Gründe für Aufstände und Kriege deutlich gemacht, die auch in der Pflege von „Massensymbolen“ wurzeln. Inwiefern für deren Wirkkraft großzügig über historisch verbuchte Tatsachen hinweggegangen werden muss und darf, wird immer wieder deutlich gemacht. Als ausgesprochen aufschlussreich erachte ich hier den Beitrag Christa Schwabs, der sich mit der aktuellen Situation der muslimischen Minderheit in Bulgarien auseinandersetzt. Die steigende Aggressivität gegenüber den verarmten Moslems, die in den Augen der Mehrheit zu gefährlichen Gegnern werden, wird nicht zuletzt vom Westen durch die eifrige Arbeit am Feindbild Islam geschürt.
Im Unterschied zu heute scheint in den vorangehenden Jahrhunderten die Politik der ganz Großen mit Südosteuropa ganz unverbrüchlich umgegangen zu sein, weil es jener Massensymbole nicht bedurfte, die in den eigenen Ländern gegen den Balkan installiert oder gefestigt werden mussten. Einen Eindruck davon kann man etwa in der außergewöhnlichen Recherche Valentin Spiridinovs erhalten, der für die wenigen Monate der Balkankrise von 1908, 1909 an die dreißig Varianten von Koalitionen und Konflikten ausdifferenzieren konnte. Von diesen Verhandlungen, Sondierungen, Politikermeinungen und Gerüchten der Großmächte wurden bis zum Ersten Weltkrieg immerhin vierzehn realisiert und immer von neuem lokale in globale Konflikte verwandelt, die nicht nur an den unterschiedlichen nationskonstituierenden Bedürfnissen der Südslawen, sondern auch am Bewusstsein der europäischen Bevölkerung vorbeigingen. Insofern ist auch nicht verwunderlich, dass etwa Eva Reichmanns Suche nach Bezügen zu den Südslawen in der österreichischen Literatur äußerst dürftig ausfiel. Auch heute noch schrumpfen Wissen und Bilder über Südosteuropa zu einem freischwebenden negativ konnotierten Begriff zusammen. Den Amerikanern, so die Herausgeberinnen im Vorwort, die den „Balkan“ meist weder historisch noch geographisch zuordnen können, dient dieser Begriff überhaupt nur dazu, um „ein negatives Bild von Zersplitterung und Uneinigkeit“ zu entwerfen.
Gerade hier vermag dieser Band nicht nur durch historische Aufarbeitung, sondern auch in manchen Auseinandersetzungen mit Theorie gegenzusteuern. So erweist sich etwa der Text Peter Horns als äußerst aufschlussreich, indem er zeigt, wie die Geschichte als „fixierte Blutrache … aller Massen“ (Canetti) gerade bei den Multikulturalisten nachzuwirken scheint. Denn wer, so der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller aus Südafrika, wie die Postkolonialisten versessen sei auf Diversität und ethnische Ursprünge, kämpfe gegen die aufklärererische Idee des allen Menschen Gemeinsamen. Ebenso gefährlich sind die sogenannten „Dornröschentheorien“, die nach Stefan Plaggenborg den politischen Nationenbegriff im Gewande der Theorie adeln und die „schlafende“ Nation wecken. So wird die „naturalisierende Falle“ einer gewissen historischen Argumentation (Judith Veichtlbauer) in mythisierenden Diskursen ausgemacht, – eine Falle, vor der vielleicht nur jener gefeit ist, der, wie Erhard Busek, professioneller Politiker ist. Dieser darf allerdings auch den Balkan schlicht als „Lücke“ bezeichnen, die man im Sinne eines vereinten Europas zu schließen habe.
Allerdings schreibt der ehemalige Vizekanzler auch, dass Südosteuropa Geld statt Waffen brauche und lenkt damit den Blick auch auf Umstände, die im gesamten Band – weil der Nationenproblematik verpflichtet – leider kaum zur Sprache kommen. Dabei haben Bürgerkriege wohl vor allem ökonomische Ursachen, auch wenn sie als nationale, religiöse und sprachliche Kämpfe ausgetragen werden. Dass das Wort „Balkan“ überhaupt suspendiert gehöre, weil es durch die negativen Konnotationen den Blick verstellt, diese durchwegs praktische Forderung Buseks zielt in eine ähnliche Richtung wie der Vorschlag, vielleicht auch einmal die Assoziationskette Balkan-Pulverfass zu sprengen. Das hieße freilich auch, nicht zuletzt im Sinne Canettis, auf schlagkräftige Titel und die eingeschränkte und ideologische Themenvorgabe zu verzichten, die einmal mehr eine ganze Gegend als notorisch kriegerisch verunglimpft und damit auf prekäre Weise in Schach hält.
Insofern bleibt auch der „patriotische Stolz“ von Stefan Ancev äußerst nachvollziehbar, der andere Imagos UND Realitäten Südosteuropas herbeizitieren muss, um den Balkan aus den Würgegriffen des hochmütigen Westlers erst einmal frei zu bekommen. Der Gewinn des Bandes liegt denn auch gerade in jenen Sichtweisen, die vom Thema abkommen, er liegt in dem wohl motivierten Aufruf zum Widerstand, wie ihn etwa Hackermüller und Kohlenberger mit Canetti und Broch zu begründen versuchen, nicht zuletzt aber auch in der Leseprobe und der schlichten Einladung Stephan Steiners zur Lektüre südslawischer Literatur.