Die Intention der Autorin war nun, mit Kischs Texten der Germanistik ein eindrucksvolles, komplexes Beispiel für die Reportage als Literaturform zu bieten und eine intensivere Rezeption einer Gattung anzuregen, die aufgrund des geringeren ästhetischen Gehalts und der Flüchtigkeit im literarischen Kanon oftmals vergeblich zu suchen ist. Die Tatsache, dass sich die Reportage als Gattung im Grenzbereich zwischen Fakten und Fiktion bewegt und weitaus mehr den Kriterien der Funktionalität als ästhetischen Ansprüchen unterliegt, wirkt sich auf die germanistische Rezeption aus. Doch aus den Reihen der Schriftsteller und Literaturkritiker kommen Stimmen, die einer Renaissance der Reportage im Zusammenhang mit der „Krise zeitgenössischer (deutschsprachiger) Literatur“ das Wort reden. So konstatiert der deutsche Schriftsteller Prager Herkunft, Maxim Biller, dass die naheliegende Verbindung von Journalismus und Literatur heute verpönt sei; Realismus sei allerdings für die Literatur lebensnotwenig. Er plädiert daher für einen erweiterten Reportagebegriff, um die Literatur aus ihrer Abgehobenheit zurückzuholen.
Kisch selbst begründete die Wahl der Gattung damit, dass das tausendfach erlebte Grauen, welches die grausamste Fiktionen übertreffe, dem Roman die Daseinsberechtigung entzogen habe, während die Reportage die Realität zum Gegenstand mache. Karin Ceballos Betancur zeigt, wie Kisch im Exil die Reportage mehr als Waffe denn als Kunstform einzusetzen begann, und gleichzeitig, bedingt durch das Fehlen von Informationen, weitaus mehr fiktionale Literatur produzierte, die mit künstlerischen Mitteln Wahrheitsgehalt vorgab. Dass die Strategie, sich des Mythos der Faktenwirklichkeit für politische Zwecke zu bedienen, nicht unproblematisch ist, betont die Autorin. In ihrer Publikation bietet sie zunächst eine zusammenfassende Darstellung von Formen und Funktionen der Reportage. Die Lebens-, Publikations- und Rezeptionsbedingungen im mexikanischen Exil (1940-1946) und die Textproduktion von Kisch stehen im Zentrum der Analyse. Als sehr liberales Aufnahmeland bot Mexiko gerade kommunistischen Exilanten Schutz sowie Möglichkeiten zur politischen Arbeit.
Ceballos Betancur zeichnet nach, welche Formen der Reportage Kisch anwandte, um auch eine Leserschaft außerhalb des Kreises gleichgesinnter EmigrantenkollegInnen anzusprechen. Sie macht zudem bewusst, welche Schwierigkeiten sich aufgrund fehlender Informationen und Diskurse im Exil für das Bemühen um einen innovativen Gehalt der Reportagen ergeben. Auch aus Rücksichtnahme auf Angehörige im Deutschen Reich war mit Informationen extrem vorsichtig umzugehen. Es verwundert allerdings ein wenig, dass in diesem Kontext zwar deutsche und deutschsprachige Organisationen und Institutionen behandelt werden, dass die Autorin hingegen auf Kischs publizistisches und politisches Engagement in tschechoslowakischen Organisationen bis auf eine Randbemerkung nicht eingeht. Kisch war zwar deutschsprachig, doch verfügte er gleichzeitig über Identitäten als Prager und Jude, der seine Sozialisation in der österreichisch-ungarischen Monarchie erfahren hatte und sich für die Tschechoslowakei politisch und publizistisch engagierte. So war er etwa Mitglied der Asociación Checoeslovaco-Mexicana. Österreicher, Tschechoslowaken und Deutsche gemeindeten ihn anlässlich der Feiern zu seinem 60. Geburtstag gleichermaßen ein. Zudem sind Exilwerk und politisches Engagement von Kisch, wie die Autorin zu Recht betont, eng miteinander verflochten.
Mittels der beiden letzten, im Exil veröffentlichten Werke Kischs, „Marktplatz der Sensationen“ (1942) und „Entdeckungen in Mexiko“ (1945) analysiert Ceballos Betancur überzeugend, dass die Reportage von Kisch als literarisches Genre zu verstehen ist. „Marktplatz der Sensationen“ ist gattungstheoretisch eine Autobiographie, eine vermeintliche Reportagensammlung. Sein Alter ego als vermittelnde, reflektierende, handelnde, kommentierende Instanz mittels „verfremdeter Subjektivation“ ist in Kischs Texten ständig präsent. Zudem räumte er der „logischen Phantasie“ weitaus mehr Spielraum ein als etwa dreißig Jahre zuvor. Er gesteht den Texten Authentizität zu, ohne dieser gerecht zu werden. In seinen „Entdeckungen in Mexiko“ thematisiert Kisch aktuelle Gegebenheiten und Kulturgeschichte des Aufnahmelandes, in die er Bemerkungen über die Exilantenexistenz und Bezüge zu Europa einfließen lässt. Während ethnische Gruppen meist idealisiert werden, weist die Autorin auch Ausrutscher in Form von rassistischen Klischees des Europäers nach, der eine eurozentristische Position gelegentlich zu überdenken vergisst. Die bedeutende Rolle der Ironie in Kischs Texten streicht Ceballos Betancur im Zusammenhang „Entdeckungen in Mexiko“ hervor. Dass die Kunst der Zuspitzung in Bildern seinem Judentum zu verdanken sei, wie Dieter Schlenstedt konstatierte, bezweifelt sie. Doch spielt die Tradition jüdischen Witzes – gerade auch im Prager Umfeld – eine bedeutende Rolle.
Der vorliegende Band stellt zunächst eine wichtige Ergänzung zu Marcus Patkas umfangreicher biographischer Studie („Egon Erwin Kisch. Stationen im Leben eines streitbaren Autors“, 1997) dar, in der Netzwerke rekonstruiert, (weltanschauliche) Konflikte unter EmigrantInnen beschrieben und die Exilstationen Kischs minutiös recherchiert wurden, in der die literaturwissenschaftliche Analyse der Texte aber zu kurz kommt. Karin Ceballos Betancur zeichnet überzeugend nach, dass in Kischs Werken eine Grenzziehung zwischen Journalismus und Literatur nicht möglich ist und dass sich das Wechselverhältnis zwischen Tatsachen und Fiktion in der Exilsituation deutlich zu Gunsten letzterer verschob. Es gelingt ihr, in einer knappen, komprimierten, jedoch sehr schlüssigen Analyse in sprachlich gewandter Form ein Beispiel für die Reportage als Literaturform zu bieten. Es bleibt zu hoffen, dass Kisch als herausragendes Beispiel für einen Autor, der zwischen Fiktion und Faktischem zu lavieren verstand, verstärkt Eingang in den literaturwissenschaftlichen Kanon findet.