York-Gothart Mix ist dieses Problem bewusst und er definiert als Aufgabe des von ihm betreuten Bandes der bei Hanser erschienenen Sozialgeschichte der deutschen Literatur zur frühen Moderne, die „ausgrenzende Antithetik zwischen interner und externer Literaturbetrachtung“ zu überwinden. „Ausgehend von einem Kulturbegriff, der die medial vermittelte, symbolisch verschlüsselte Interpretation und Thematisierung von Wirklichkeit in das Zentrum rückt, erhellt der Band die Eigendynamik, Vermittlung, symbolische Ökonomie und den Institutionalisierungsgrad epochentypischer, literaturgebundener Leitideen.“ Das ist ein weites Konzept, das den üblichen Begriff einer „Sozialgeschichte“ der Literatur absichtlich sprengt und ihn mit modernen Gesellschaftstheorien verknüpft.
Horst Thomé eröffnet den Band mit einer präzisen Studie über Modernität und Bewusstseinswandel, Phänomene die – wie Karlheinz Rossbacher zeigt – die Existenz einer Heimatkunst keineswegs ausschlossen. Unter den vierzig Beiträgen des Bandes gibt es rein germanistische, wie etwa den von Simone Winko über Novellistik und Kurzprosa im Fin de siécle, den Aufsatz von Elke Austermühl über die Lyrik der Jahrhundertwende, Hartmut Vincon Aufsatz über Einakter und Kurzdramen, Bayerndörfers Arbeit zur Dramatik des Expressionismus oder Karl Rihas Arbeit über die Dichtung des deutschen Frühexpressionismus.
Ausweitungen zeichnen sich ab in Theo Meyers Darstellung des naturalistischen Dramas und die es begleitenden Literaturtheorien und in der Darstellung von Generationenkonflikten in eben diesem Drama (Helmuth Scheuer). Der Generationenkonflikt als zentrales Problem seiner Zeit wird vom Herausgeber selbst auch an Hand der Fin de siècle-Literatur und des Expressionismus abgehandelt und spielt auch in Helmut Koopmanns Arbeit über Gesellschafts- und Familienromane eine gewichtige Rolle. Daneben finden sich monographische Darstellungen wie etwa Manuela Günthers Studie über Franz Mehring. Mehring verweist auf das Verhältnis Arbeiterbewegung und Literatur, das sowohl in Walter Fähnders Studie über anarchistische Schriftsteller und Literaturtheoretiker wie auch in Michael Starks Aufsatz über literarischen Aktivismus und Sozialismus zentral steht. Eine andere gewichtige Inspiration erlebte die Literatur durch das Auftreten der Psychoanalyse, dem Thomas Anz eine Arbeit gewidmet hat.
Zahlreiche Studien behandeln verschiedene Aspekte der Literaturvermittlung, über die Rezeptionsdifferenz der Geschlechter bei Lyrik (Günther Häntzschel), bis zu Literaturzeitschriften (Günter Butzer / Manuela Günter, Wilhelm Haefs), Verlage, Anthologien und das Verhältnis zwischen Autor und Verleger. (Stefan Füssel). Ein Kapitel ist der Reaktion der Literatur auf das neue Medium Film (Harro Segeberg) gewidmet. Auch die öffentlichen Orte der Literatur und die Versammlungsstellen ihrer Produzenten werden besprochen: Wolfgang Bunzel etwa beschäftigt sich mit dem Wiener Kaffeehaus. Da auch das Zensurwesen bei der Vermittlung eine gewichtige Rolle spielt, wird es von Uwe Schneider an Hand einiger spektakulärer Fälle besprochen.
Das Prinzip der räumlichen Knappheit, unter dem der Band zwangsläufig steht, produziert manchmal Verkürzungen – besonders stark in John A. McCarthys Beitrag über die Nietzsche – Rezeption bis zum Ende des Weltkrieges. Auch zu Monika Ficks Thema, der deutschen Dekadenz-Literatur, hätte man gerne mehr gelesen, obwohl sich in Hiltrud Gnügs Beitrag über die erotische Rebellion ergänzendes Material findet. In summa bleibt offen, ob der Band das Konzept einer synthetischen Betrachtung eingelöst hat, oder ob es nicht bloß eine Addition verschieden etikettierbarer Wissensformationen ist, die er uns bietet. In jedem Fall stellt er ein an Informationen reiches Arbeitsbuch dar.