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Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur

Claudio Magris

// Rezension von Karin Fleischanderl

Beinahe vierzig Jahre danach, nämlich nach der Veröffentlichung der italienischen Originalausgabe im Jahr 1963, legt der Zsolnay-Verlag Claudio Magris‘ mittlerweile ebenfalls längst zum Mythos gewordenen Essay Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur neu auf. Vierzig Jahre danach … das lädt natürlich ein, Bilanz zu ziehen, zu überprüfen, was der „habsburgische Mythos“ an Frische eingebüßt hat, ob er die Jahre der zum Teil mitverschuldeten „Mitteleuropa“- Hysterie unbeschadet überstanden hat. Allem voran: Zsolnay hat die 1966 von Madeleine von Pázstory angefertigte, nicht immer geglückte Übersetzung überarbeiten lassen, allein dieser Umstand rechtfertigt die Neuauflage.

Die Rezeption von Magris‘ Werk in den sechziger Jahren war zwiespältig: einerseits kam seine homogenisierende Sicht der österreichischen Literatur all jenen zupaß, denen es an Argumenten zur Definition des kulturellen Selbstverständnisses des „Neuen Österreich“ fehlte, anderseits wurde ihm vorgeworfen, er habe den Mythos demoliert, die Denkmäler vom Sockel gestoßen, indem er auf die Brüchigkeit des Gebildes hinwies, das die österreichischen Autoren in ihren Werken als intakt heraufbeschworen oder dem sie nachweinten. „Mythos“, das bedeutet ja, daß eine historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit vollständig durch eine fiktive, illusorische Realität ersetzt wird, daß eine konkrete Gesellschaft zu einer malerischen, sicheren und geordneten Märchenwelt verklärt wird. Wie immer liegt die Wahrheit in der Mitte, und die Größe des Werks besteht in seiner Ambivalenz, einerseits in der kritischen Distanz, mit dem Magris den ideologischen Überbau der österreichischen Literatur zur Zeit der Donaumonarchie analysiert, andererseits in der Faszination, mit der er, der gebürtige Triestiner und somit gelernte Kakanier, die österreichische Kulturgeschichte betrachtet.

Vierzig Jahre danach, das bedeutet auch, daß Magris‘ damals revolutionäre Thesen, die der österreichischen Literatur ein eigenes Statut gegeben und es ermöglicht haben, sie von der allgemein deutschsprachigen abzugrenzen, mittlerweile Allgemeingut geworden sind: Neuerscheinungen beziehungsweise Wiederentdeckungen wie der Ungar Sándor Márai lassen sich somit leichthin mithilfe des Begriffs „Habsburgermythos“ klassifizieren.

Worin nun dieser Mythos genau besteht, das beschreibt Magris in seinem epochalen Werk in Form einiger großartiger und einiger weniger gelungener Schriftstellerporträts. Großartig etwa, und darin waren sich im Lauf der Jahrzehnte auch die meisten Rezensenten einig, ist seine emphatische und stimmungsvolle Beschreibung der Literatur Grillparzers, dessen Poetik er als „grandiose Statik“ beschreibt. „Grillparzers gesamtes Werk durchziehen ein paar endlos abgewandelte, doch im wesentlichen einheitliche Mythosworte und Grundthemen, um die herum sich die tragischen Geschehnisse entwickeln: Selbstbewahrung, Entsagung, Treue, Beharren, Besitzen und Verlieren, Entpersönlichung, Selbstentfremdung. Es ist dies ein typisch österreichischer, eindeutig aus dem Barock herrührender Komplex aus Täuschung und Enttäuschung, ein tragisches Spiel um die trügerische Selbstbehauptung und das Erkennen höherer Gesetze, um das Sichverlieren in der Egozentrik entfesselter Leidenschaften und das Sichfinden in der Unterwerfung unter eine individuelle Ordnung. Es ist die alte Geschichte vom Titanen, der seine Schwäche und Vergänglichkeit entdeckt.“

Weniger gelungen hingegen erscheinen die Analysen anderer Dichter, etwa die Stifters oder Kraus‘, wo sich der Versuch, individuelle literarische Äußerungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, eher als Manko zu Buche schlägt. Auch wenn sich ein Autor wie Musil nach dem Untergang der Donaumonarchie (als der Mythos ja eigentlich erst entsteht, obwohl Magris den Verfall der Monarchie bereits mit Anfang des 19. Jahrhunderts ansetzt), noch immer, und sei es auch nur im Negativen, in Form eines spöttischen Sarkasmus, auf die Werte des Habsburgerreiches beziehen mag, so erscheint die rein literatursoziologische Betrachtung in diesem Fall denn doch eher als Reduktion denn als erhellender Blick.

Dieselbe Reduktion übrigens, die sich auch in Robert Menasses von Magris inspiriertem Essay „Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ bemerkbar macht, in dem versucht wird, die Literatur der Zweiten Republik aus ebendemselben, angeblich so ur-österreichischen Geist des Stillhaltens und des Zwanges zum Konsens zu erklären: „Der Topos vom so eigentümlich harmonisierten Herr-Knecht-Verhältnis ist das Verbindungsglied zwischen der habsburgischen Literatur und der des neuen Österreich, er bezeichnet den einzig relevanten literarischen Traditionszusammenhang zwischen der Habsburgischen Monarchie und der Zweiten Republik.“

Magris‘ Buch hat auch nicht wenig zu dem immer wieder auftauchenden Verdikt beigetragen, die österreichische Literatur sei antirealistisch und apolitisch. Auch Ulrich Greiners 1979 erschienener Essay „Der Tod des Nachsommers“, in dem behauptet wird, „die politische Windstille des heutigen Österreich“ verursache „jene bohèmehafte, apolitische, artifizielle Literatur, die von Graz bis Wien Kennzeichen vieler österreichischer Autoren ist“, bezieht sich bei aller Kritik auf den „Habsburgermythos“.

Somit fordert Magris Essay vierzig Jahre danach und nach allem, was als Antwort darauf bereits geschrieben worden ist, indirekt dazu auf, die zeitgenössische österreichische Literatur unter dem Aspekt dieser übermächtigen Tradition zu betrachten: Wenn zum Beispiel Iris Radisch im „Literarischen Quartett“ sich bemüßigt fühlt, angesichts des Romans „Gier“ von Elfriede Jelinek „das Positive“ einzufordern, so fragt man sich, ob es sich bei Jelineks Haltung nicht genau um jene Negativität, um jenen spöttischen Sarkasmus handelt, die manchen als „einzig authentische Haltung im Denken wie in der Kunst“ (Magris), anderen jedoch als unerträglich erscheinen.

Claudio Magris Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur
Essay.
Übers. aus dem Italienischen von Madeleine von Pásztory.
Wien: Zsolnay, 2000.
416 S.; geb.
ISBN 3-552-04961-4.

Rezension vom 14.11.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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