#Sachbuch

Land der Träumer

René Freund

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl

Das kommt selten vor, ein Band mit zwölf etwas abseitigen Porträts – und eine Neuauflage nach nur vier Jahren. Es liegt wohl nicht nur am trendigen Titel – wo der Zeitgeist waltet, wächst auch das Interesse für die „Dissidenten des Zeitgeistes“ (S. 12) -, sondern vor allem an Auswahl und Qualität der gezeichneten Lebensbilder, die sich zu einem spannenden „Netzwerk von unterirdischen Straßen der Geistesgeschichte“ formen. Ihre Ideen, Lebenskonzepte und Erfindungen sind eingebettet in die Stimmungen und Befindlichkeiten der Epoche und fügen sich zu einem ergänzenden Bild des kreativen Milieus der Jahrhundertwende.

Zum Beispiel in Graz: Während Jakob Lorber, der Prophet aus Graz, nach Diktat einer inneren Stimme sein gigantisches mystisches Werk zu Ende schrieb, siedelte sich Leopold von Sacher-Masoch, als Sohn des Polizeidirektors von Lemberg aus Galizien stammend, hier an. Im allgemeinen Gedächtnis lebt er seit Krafft-Ebings „Psychopathia sexualis“ (1886) ausschließlich als Namensgeber einer sexuellen Obsession weiter. Hier wird an sein umfangreiches schriftstellerisches Werk jenseits der Verewigung der Kazabaika der Tante Zenobia (möglicherweise das kindliche Urbild der späteren Venus im Pelz) erinnert und auch an sein soziales und volksbildnerisches Engagement.

Groß ist der Frauenanteil des Bandes, wie immer, wenn es um Vergessenes geht. Zum Beispiel Rosa Mayreder, als Theoretikerin verschwiegen, als Schriftstellerin ein Leben lang erfolglos. (Ihre lesenswerte Autobiographie „Das Haus in der Landskrongasse“ wurde 1998 im Wiener Mandelbaum Verlag neu aufgelegt.) Sie war befreundet mit Marie Lang, Gründerin und Organisatorin der ersten Frauenberatungsstellen. Aus der Literaturgeschichte ist sie bekannt als Mutter von Heinz Lang, dessen tragischen Selbstmord Arthur Schnitzler in seinem Drama „Das Wort“ verarbeitete. Ständiger Gast in Mayreders Haus war Friedrich Eckstein, mit seinen weitverzweigten Kontakten tatsächlich ein „Eckstein der Wiener Gesellschaft“ (S. 57). 1898 heiratete er Bertha Diener, bekannter, wenn auch lange Zeit vergessen, unter dem Pseudonym Sir Galahad. Auch ihre gemeinsame Villa in der Helenenstraße in Baden bei Wien begegnet uns bei Schnitzler wieder. Sie ist Schauplatz seiner Tragikomödie „Das weite Land“.

Das Bild Eugenie Schwarzwalds, Pädagogin und Gründerin des ersten Mädchengymnasiums in Wien, ist aus den Erinnerungen und Bonmots der (männlichen) Repräsentanten der Jahrhundertwendeliteratur ausschließlich als lächerlich und „eher lästig“ (Elias Canetti) bekannt und bedarf einer besonderen Korrektur. (Prägend vor allem das sarkastische Porträt als Hofrätin Schwarz-Gelber in Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“.) Nicht nur, daß sie mit ihrer Offenheit und Aufgeschlossenheit viele, die sie später schmähen werden, selbstlos gefördert hat (auch der junge Canetti erhielt in ihrer Schule die Möglichkeit zu einem ersten öffentlichen Auftritt vor illustrem Publikum). Als sensible Pädagogin entwickelte sie neue Konzepte eines lebendigen, offenen Unterrichts und verstand es, die besten Lehrkräfte an ihre Schule zu binden. Bis in den zwanziger Jahren Otto Glöckel begann, sie ihr abzuwerben, ihre Konzepte zu übernehmen und sich damit erfolgreich als Schulreformer in die Annalen der Geschichte einzuschreiben.

Verkannt war auch Paul Kammerer, Biologe und Entdecker der Vererbbarkeit von erworbenen Anpassungsmerkmalen (nachgewiesen an den Brunftschwielen der Geburtshelferkröte), den Intrigen in den Selbstmord trieben. Arthur Koestlers leider vergriffenes Buch „Der Krötenküsser“ versuchte den Fall aufzurollen. In der Literaturgeschichte kommt Kammerer als Geliebter von Alma Mahler und Grete Wiesenthal oft in der einen oder anderen Fußnote vor, ebenso wie Florian Berndl, der „Vater des Gänsehäufls“, wo Max Burckhard, Hermann Bahr und Peter Altenberg die neuartigen Badefreuden genossen. Peter Altenberg hat Berndl und sein Gänsehäufl auch in einer seiner Miniaturen verewigt. Als Naturapostel zunächst belacht und wegen zu großer Freizügigkeit verfolgt, wurde Berndl später, als eine freiere Badekultur en vogue wurde, von der Gemeinde Wien entmachtet und vertrieben und starb verarmt und vergessen.

Bekannter ist die Figur des Freud-Schülers Otto Groß, dessen lebensreformerische Kolonie am Monte-Verità Rainer Maria Rilke besuchte und Emil Szittya in seinem „Kuriositäten-Kabinett“ beschrieb. Seine gelebte Utopie eines sexuell freien Zusammenlebens nach urkommunistischen Prinzipien machten ihn zum Bürgerschreck, der in der Entmündigung mundtot gemacht wurde. Wilhelm Reich – auch er endete, von der Gesellschaft verfolgt, in einem amerikanischen Gefängnis – begegnen wir in diesem Band nicht nur als Dissidenten der Psychoanalyse, der die Einbeziehung des Körpers in die therapeutische Behandlung forderte, und als Entdecker des Orgons, sondern auch als Regenmacher. Das leitet über zum abschließenden Block von technischen und naturwissenschaftlichen Erfindern. Ziemlich klar an der Schwelle zum Scharlatan Carl Schappeller, der mit ungeheurem Talent riesige Summen für die absurdesten Projekte zu organisieren verstand, etwa die Gewinnung von kosmischer Energie oder die Hebung des Attila-Schatzes im Garten seines Schlosses in Aurolzmünster (OÖ), ein Projekt, das Alexander Lernet-Holenia zu seinem Roman „Der Mann mit Hut“ inspirierte.

Durchaus ernsthafte Erfinderfiguren waren hingegen Viktor Schauberger im Bereich Energiegewinnung und Wasserwirtschaft oder Nikola Tesla im Bereich der Elektrizität – beide geniale Forscher, die letztlich an Intrigen, Desinteresse und Unverstand ihrer Umgebung scheiterten.

René Freunds Lebensskizzen sind spannend geschrieben und sorgfältig recherchiert. Wer am geistesgeschichtlichen „Unterbau“ der Epoche interessiert ist, kommt dabei ebenso auf seine Rechnung wie jene Leser, die Seitenblicke und Gesellschaftsanekdoten schätzen. Auch die zweite Auflage wird sich sicher gut verkaufen.

René Freund Land der Träumer
Zwischen Größe und Größenwahn. Verkannte Österreicher und ihre Utopien.
2. Auflage.
Wien: Picus, 2000.
223 S.; geb.
ISBN 3-85452-403-X.

 

Rezension vom 26.09.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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