Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts lautet der pragmatische Untertitel, der dem Kern und dem Potential des Buches nicht ganz gerecht wird. Mit Ausnahme des kürzeren fünften Teils geht es nicht um literarische Porträts im engeren Sinn, sondern um Personenbeschreibungen „unter der Wahrheitsverpflichtung des nichtfiktionalen Schreibens“ (S. 119), also um kleine Miniaturen über Zeitgenossen, Kollegen, Vorbilder der Vergangenheit, wie sie sich eingestreut finden in Tagebüchern, Autobiografien und Briefen.
Den fulminanten Auftakt macht in Kapitel eins die sensible Analyse der zumeist nur wenige Zeilen langen Porträtskizzen aus Kafkas Tagebüchern, von denen Matt die Anregung für die Beschäftigung mit dem Thema bezog. Mit Akribie und Geduld arbeitet Matt an vielen Beispielen heraus, wo das Moment der Irritation von Kafkas Schreibweise liegt, wie und weshalb seine Anläufe, das menschliche Gesicht mittels Sprache abzubilden, ins Absurde, oft Schmerzhafte kippen.
Schritt für Schritt wird der Punkt herausgeschält, an dem die Bewegung der Beschreibung zur Überraschung (und oft Überforderung) des Lesers plötzlich in die Gegenrichtung läuft. Ein Element des Gesichts wird unvermutet von der Person losgelöst, in einen anderen Raum gestellt und nimmt hier eine völlig fremdartige, in sich aber vollendete Gestalt an. Das ist auch zu lesen als Ausdruck der Ambivalenz von Begegnungssehnsucht und Begegnungsangst. Der Goldzahn, der den Mund des gähnenden Herrn in der Loge „ein Weilchen so offen hält“ oder der Nachsatz zu einer Charakterisierung seines Chefs: „Banknoten dürften nicht so gemacht sein“ – es ist dieses Irritationspotential der Kafkaschen Miniaturen, an dem sich Matt mit Verve abarbeitet. Spannend daran sind auch die in der Interpretation verbleibenden Leerstellen. Wenn Kafka bei einem faltigen Gesicht vom „verständnislosen Staunen“ spricht, „mit welchem Tiere solche Menschengesichter anschauen müßten“, ist dem für Matt „mit keiner Logik beizukommen“ (S. 28). Liest man in die Textstelle die Tatsache des psychischen Alterungsprozesses als ein menschliches Konstituens (als dessen Folge charakteristische Faltenbildungen gelten können) hinein, erschließen sich durchaus zusätzliche Bedeutungssebenen.
Was Peter von Matt am Beispiel Kafkas herausarbeitet, ist die Tatsache, daß der Beschreiber „ebensosehr von sich selber wie von der geschilderten Person spricht“ (S. 113). Das wird im zweiten, Goethe gewidmeten Kapitel wiederaufgenommen. Charakteristisch hier das Arbeiten mit Gegensatzpaaren, das auf jede Synthese verzichtet: „nicht dick aber breit, unförmlich ohne verwachsen zu sein“, „zierlich aber nicht hager“, „schicklich und anständig … ohne daß es eigentlich adrett gewesen wäre“. Wohlwollen vorausgesetzt, ersetzt das Wortfeld „angenehm“ die fehlende Prägnanz, die in der Regel nur bei ferner stehenden Personen gelingt. Bei Menschen, zu denen Goethes Verhältnis problematisch oder gespannt war – wie bei Reinhold Lenz oder der Schwester Cornelia – setzt er in der Autobiografie mehrmals zu einer Beschreibung an, und die Diktion ist für den feinen Sprachanalytiker Matt mehr als verräterisch.
Das dritte Kapitel ist vom Gegenstand – nicht von seiner Aufarbeitung – her das platteste. „Die Gesichtsbeschreibung im bürgerlichen Jahrundert“ variiert die von Lavaters Physiognomien-Lehre – der Goethe bei allerm Interesse zeitlebens reserviert begegnet ist – begründeten Konventionen. Die Überzeugung von der Entsprechung zwischen Innen und Außen degradiert das beschriebene Gesicht zur „geronnene[n] Moral und erstarrte[n] Ideologie“ (S. 162). So kann Marie von Ebner-Eschenbach mit der zeittypischen Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen sittlich wertvollem Leben und poetisch wertvoller Produktion den alten Grillparzer nur als in Würde gealterten Greis beschreiben, der seine Verbitterung in Altersweisheit sublimiert hat. Denn das literarische Porträt zeigt auch, daß der Porträtist „indem er einen anderen abbildet, gleichzeitig sich selbst gesellschaftlich lokalisiert“ (S. 148). Ließen die Texte Kafkas und Goethes den Leser mit der Zwiespältigkeit und den Brüchen ihrer Porträts allein, wodurch Spannung und produktive Verunsicherung entsteht (wie auch in den Beispielen von Heine und Nietzsche), wird hier allenfalls Interesse für mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge geweckt.
Der vierte Teil versammelt Beispiele aus dem 20. Jahrhundert, wo die konventionelle Betrachtung des Gesichts nur mehr um den Preis der Trivialisierung (als Beispiel dafür fungieren Stefan Zweigs biografische Arbeiten „Drei Meister“) zur Verfügung steht. Die beschriebenen Gesichter verflüchtigen sich im Zuge der Beschreibung auf die vielfältigste Art: Das Gesicht wird als geometrisch Form wahrgenommen (Musils Tagebucheintrag über Wilhelm Rathenau, das Vorbild für seine Arnheim-Figur), Betrachter wie Betrachteter lösen sich auf im poteischen Bild (Else Lasker-Schüler über Gottfried Benn), oder das Porträt demontiert den Glauben an die Identität des Einzelnen im Entwurf multipler Persönlichkeiten (Max Frisch über Bert Brecht).
Der abschließende fünfte Teil bringt Beispiele literarischer Porträts im engeren Sinn. Generell ist ihr Wert relativ und doch viel genutzt. Gerade zentrale Gestalten entbehren oft sehr weitgehend einer konkretisierenden Beschreibung. Cervantes braucht zwei kurze Sätze für das Porträt seines Don Quijote, „den Rest haben die Leser selber getan“, und jeder würde heute „den Ritter auf der Straße sogleich erkennen“ (S. 223). Leerstellen im literarischen Figurenporträt geben der Leserphantasie den nötigen Freiraum, zu große Konkretheit kann sogar ein Hindernis sein für die Leseridentifikation. Dennoch nutzen Autoren sehr subtil und oft unterschwellig Details im Figurenporträt zur gezielten Leserlenkung, und man muß so genau lesen wie Peter von Matt, um diesen kleinen Manipulationen immer auf die Spur zu kommen.