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Über die Schrift hinaus

Hans-Ulrich Treichel

// Rezension von Jürgen Thaler

Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Treichel legt in Über die Schrift hinaus Aufsätze und Essays vor, die er in den letzten zwanzig Jahren in den verschiedensten Medien veröffentlicht hat. Die Palette der Arbeiten reicht vom Gedenkartikel bis zum wissenschaftlichen Aufsatz.

Gewidmet sind die Arbeiten folgenden Autoren: Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Robert Walser, Ernst Jünger, Alfred Andersch, Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Peter Weiss, Hans Magnus Enzensberger und Botho Strauß. Auch sein 1993 gehaltener Habilitationsvortrag zum Thema „‚Reden die Steine noch‘. Zum Bild und zur Wahrnehmung Roms in der deutschen Gegenwartsliteratur“ findet sich in dem Band wieder abgedruckt. Einzig der erste Text des Bandes „Verteidigung des Sekundären. Statt einer Einleitung“ ist ein Originalbeitrag.

Der Autor Hans-Ulrich Treichel ist nicht allein im wissenschaftlichen Bereich aktiv. Vielmehr reiht er sich in die Gilde der schreibenden Universitätsprofessoren ein. Zuletzt ist von ihm der Roman „Tristanakkord“ erschienen. Aufschlußreich ist dieser biographische Aspekt dann, wenn man sich mit Treichels „Verteidigung des Sekundären“, dem programmatischen, aber leider etwas kurz geratenen Auftakt zur vorliegenden Sammlung beschäftigt. Die Erwartungen jenes Lesers, der sich darin eine Auseinandersetzung mit George Steiners „Real Presence“ erwartet oder vielleicht sogar wünscht, wird enttäuscht. Vielmehr versucht Treichel mit seinem „Lob des Sekundären“ literaturwissenschaftliche und literarische Arbeiten engzuführen, indem er anthropologische Kategorien ins Spiel bringt. Über das Verfassen von literaturwissenschaftlichen Arbeiten schreibt er: „Es scheint neben der berufsbedingten und anfangs oft genug bewerbungsstrategischen auch eine existentielle Notwendigkeit zu geben, einen literaturwissenschaftlichen Aufsatz oder Essay zu schreiben. Nun ist es gewissermaßen Konvention, daß sich ein literarischer Autor zu dieser Notwendigkeit, zum Schreiben als ‚Existential‘, offen bekennt. Literaturwissenschaftliche Autoren scheuen sich jedoch, dies zu tun, obwohl sie es meines Erachtens ruhig dürfen.“(S. 9)

Treichel führt weiter aus, daß eine Poetik des literaturwissenschaftlichen Schreibens seiner Meinung nach durchaus ein Desiderat literaturwissenschaftlicher Forschung sei. Auf den folgenden Seiten führt Treichel einige, wie er schreibt, „Selbstbeobachtungen“ (S. 9) zum Thema an. Das Schreiben über Literatur sei eine intensivere Art des Lesens. Dies führe dazu, daß er selbst manche Texte erst lese, weil er darüber schreiben möchte, und nennt als Beispiel gerade Robert Walsers Nachlaßtexte, die er wohl schwerlich gelesen hätte, wenn er nicht gewillt gewesen wäre, darüber zu schreiben. Dann schreibe er, um dem Autor näher zu kommen, um ihm, so heißt es, „das Geheimnis seiner Produktivität zu entreißen“ (S. 11), oder aber anhand des literarischen Textes den „eigenen Möglichkeitsraum“ (S. 12) auszuloten.

Die Einleitung skizziert letztlich den Gedanken, die sogenannte Sekundärliteratur als literarische Textsorte zu begreifen. Wissenschaftliche Terminologie spielt in der kurzen Erörterung keine Rolle. Die Lektüre dieser Einleitung läßt den Verdacht aufkommen, daß Treichel sich eher als Schriftsteller denn als Literaturwissenschaftler präsentieren will. Diese Einschätzung bestätigt sich auch in den nachfolgenden Texten. Sie zeichnen sich durchwegs durch eine Blickrichtung aus, die eher den Autor als seine Texte fokussiert, weil sie an Schreib- und Lebenssituationen interessiert sind. Das hat sicher auch mit den Medien und Anlässen zu tun, für die manche der in dem Band wieder abgedruckten Texte verfaßt wurden. Verfolgt man aber diese Beobachtung weiter in den literarischen Arbeiten von Hans-Ulrich Treichel, so zeigt sich dieses Interesse an der künstlerischen Produktion und deren Umfeld auch in dem vor kurzem erschienen Roman „Tristanakkord“. So könnte man als erste Begrenzung des von Treichel formulierten Desiderats einmal eine Studie über den Zusammenhang von literaturwissenschaftlicher Methode und literarischer Produktion bei den auch als Schriftstellern in Erscheinung tretenden Literaturwissenschaftlern anregen. Es wäre wohl aber zu viel verlangt, daß ein als Schriftsteller tätiger Literaturwissenschaftler die Bedeutung des Autors für sein Werk in Frage stellt.

Die Beiträge in Über die Schrift hinaus sind alle elegant geschrieben, inhaltlich am überzeugendsten sind die Arbeiten über Wolfgang Koeppen. Ein Autor, zu dessen ausgewiesenen Kennern Hans-Ulrich Treichel schon lange zählt.

Hans-Ulrich Treichel Über die Schrift hinaus
Essays zur Literatur.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000.
241 S.; brosch.
ISBN 3-518-12144-8.

Rezension vom 20.04.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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