Solche hat der Kölner Literatur- und Medienwissenschaftler Bernhard J. Dotzler, dem mit diesem Buch ebenso eine kleine beispielhafte Wissenschaftsgeschichte der Germanistik wie eine Sammlung bemerkenswerter und für Studierende höchst empfehlenswerter Interpretationen geglückt ist, zusammengetragen und sie von namhaften zeitgenössischen Fachkollegen mit einführenden Texten rahmen lassen. Diese stellen die jeweiligen Autoren vor, beschreiben deren Textzugänge, versuchen deren wissenschaftshistorischen Stellenwert zu eruieren und verstehen es vor allem, Leseerwartungen zu wecken, die in keinem Fall enttäuscht werden. So setzt sich etwa (alle 22 Paarungen hier im Detail anzuführen, würde den Rahmen sprengen) W. Barner mit G. G. Gervinus, G. Mattenklott mit M. Kommerell, H. Schlaffer mit Cl. Lugowski, J. Ph. Reemtsma mit G. E. Lessing, W. Krull mit R. Alewyn, F. Kittler mit K. Reinhardt auseinander; ausführliche bio-bibliographische Angaben im Anhang ergänzen die Darstellung und machen auf weitere Schriften neugierig. Diese Zusammenstellung rückt Interpretationen wieder in den Vordergrund, die auch nach/neben/trotz aller stattgehabten Methodendiskussion überaus erhellend und somit als nahezu „klassisch“ zu werten sind (so z. B. Alewyns „Eine Landschaft Eichendorffs“) und die sich auch – da sie von outrierter Terminologie nicht angekränkelt sind – für Niedrigsemestrige als gut lesbar erweisen, womit sie sich vorzüglich als Anleitungen zu differenzierten Leseübungen anbieten.
Und bei diesen Texten wird auch augenfällig, was nicht zuletzt den Sinn literaturwissenschaftlicher Hermeneutik ausmacht: „das Verstehen“, so Hugo Friedrich, stelle „diejenige Beziehungsfülle und Aktualität wieder her, die das Werk einstmals besaß und die ein bloß rezipierender Leser nicht mehr wahrnehmen kann.“ (S. 59) Und Friedrich bringt auch eine Zielvorstellung des Interpretierens wieder in Erinnerung, die mitunter aus dem Blickfeld zu geraten droht: „Verstehen will Einklang mit dem Gegenstand.“ (S. 58) Neben Interpretationen im engeren Sinn umfaßt diese Anthologie auch Beiträge zur Form- und Gattungstheorie (M. Susmann über das Lyrische Ich, W. Benjamins „Der Erzähler“, Ausführungen zur Redefunktion von J. Maas etc.), zur Literaturgeschichtstheorie (G. G. Gervinus), zur Rezeptionstheorie und Literatursoziologie (L. Schücking, W. Krauss) u.a.m. Ob allerdings Joh. G. Münchs Vorlesung von 1799 „Ueber den Einfluß der Criminal-Psychologie auf ein System des Criminal-Rechts, auf menschlichere Gesetze und Cultur der Verbrecher“ oder O. Luschnats „Autodidaktos. Eine Begriffsgeschichte“ zu den Grundlagentexten der Literaturwissenschaften zu zählen sind, bleibe dahingestellt, eine interessante und anregende Lektüre sind sie allemal.
Mit dieser Sammlung wird somit nicht nur ein repräsentativer Einblick in die Geschichte des Faches und eine Übersicht über dessen vielfältige Ausrichtung geboten, sondern auch ein bedeutsamer Aufschluß über die Leistungsfähigkeit der Literaturwissenschaft als solcher, die sich derzeit ihren Gegenstand mit einem Teil der Medienwissenschaft und den „Cultural Studies“ teilt und von diesen herausgefordert wird. Und dabei tritt besonders ein Aspekt hervor, den Hugo Friedrich akzentuiert, nämlich, daß „die Wissenschaft von der Dichtung eine genießende Wissenschaft zu nennen“, also „der zur Reflexion erhobene Genuß“ ist. (S. 60) Somit empfiehlt sich diese Anthologie nicht nur als Lehr- sondern vor allem auch als Lesebuch.