Inhaltlich folgt der Band, Ergebnis eines Kolloquiums, das 1994 im Prager Goethe-Institut stattgefunden hat, dem Weg Rilkes durch Europa, von seiner Heimatstadt Prag über Rußland und Skandinavien bis nach Frankreich. Italien wird dabei allerdings ebensowenig berücksichtigt wie die Schweiz, Rilkes letzte „Heimat“. Die beiden Schwerpunkte des Buches bilden einerseits Rilkes Verhältnis zu seinem tschechischen Ursprung, andererseits seine innigen Beziehungen zur französischen „Wahlheimat“.
In den Aufsätzen begegnet einem zunächst mancherlei Altbekanntes über Rilkes „tschechische“ Jahre, mitunter stößt man aber auch auf kleinere Fundstücke, etwa in Kurt Krolops Beschreibung der literarischen Anfänge des jungen Maria René. Rilkes Kenntnisse seiner slawischen Zeitgenossen (d. h. der Tschechen und Russen; für andere slawische Völker interessierte er sich wenig) und ihrer Kultur kann man zusammenfassend als „oberflächlich“ und „idealisierend“ bezeichnen, wofür sich Antonin Mestan in seinem Aufsatz mit den Worten „Dies soll keine Kritik sein, dies ist nur die Feststellung der Tatsachen“ geradezu entschuldigt. (S. 64) – Zum Forschungsbereich „Rilke und Rußland“ präsentiert Konstantin Asadowski einige neue Aspekte, u. a. zur Freundschaft Rilkes mit der russischen Emigrantin Julia Ssasonowa-Slonimskaja, einer talentierten Schriftstellerin und Journalistin, die in Paris ein Puppentheater gegründet hatte, für das sich Rilke – in seinem in den 20er Jahren neu entflammten Interesse für die russische Kultur – begeisterte.
Mit Rilkes eigenen französischen Gedichten und seinem Verhältnis zu Baudelaire, Cézanne, Rodin und Valéry decken die weiteren Aufsätze wesentliche Bezugspunkte Rilkes zu Frankreich ab. Roger Bauers Darstellung des Einflusses von Baudelaires „poèmes en prose“ Baudelaires auf Rilke etwa veranschaulicht die Möglichkeit, Rilkes „Malte Laurids Brigge“ als eine „sich der gebundenen Rede annähernde Prosa“ (S. 175) und somit als eine Art Rilkescher Anverwandlung und Fortführung der Baudelaireschen „Technik“ zu lesen.
Neben den (traditionellen) Schwerpunktthemen enthält das Buch schließlich noch Aufsätze über Rilke und Skandinavien, seine Übersetzungen der „Sonnets from the Portuguese“ der englischen Dichterin Elizabeth Barrett-Browning und seine Beziehung zur Innsbrucker Zeitschrift „Der Brenner“ Ludwig von Fickers. Abgeschlossen wird der Band von der Beschreibung Rilkes „als Europäer“ (oder als „gelernter Europäer“, wie es Kurt Krolop nennt; S. 27), als der er sich „in erster Linie geistig und kulturell“
(S. 221) und weniger politisch sehen wollte. Daß die europäischen (Reise-)Erfahrungen Rilkes Niederschlag in seinem Werk fanden, ist selbstverständlich. Daß aber aus Rilkes zahlreichen Selbstzeugnissen und – stilisierungen wirklich ein „gelebtes und bezeugtes Europäertum“ (S. 212) (was auch immer das sein mag) herausgelesen werden muß, scheint mir überzogen. Die „Vielfältigkeiten seines Bluts“ (Rilke über seine Abstammung) sollten eigentlich weniger interessieren als diejenigen des literarischen Werkes.