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Überlebens-Theater. Der Schauspieler Reuss

Hilde Haider-Pregler

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl

Es gibt Lebensläufe, bei denen sich eine einzige schicksalhafte Episode so hartnäckig vor das Gesamtbild der Person schiebt, daß der Blick darauf ein für alle Mal verstellt scheint. Der Fall Leo Reuss gehört sicher in diese Kategorie. Der verlockenden Tendenz zum Anekdotischen entgegenzuwirken, ist ein Verdienst der Wiener Theaterwissenschaftlerin Hilde Haider-Pregler, seit 1989 Vorstand des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Wien. Gerade rechtzeitig zur Premiere von Felix Mitterers eher schwankhaftem Theaterstück „In der Löwengrube“ am Wiener Volkstheater erschien im Wiener Holzhausen Verlag ihre Rekonstruktion der Lebensgeschichte des Schauspielers Leo Reuss unter dem Titel Überlebens-Theater. Der Schauspieler Reuss.

Zuerst die Anekdote, hinter deren Unterhaltungswert die existentielle Dramatik dieser „der Verzweiflung abgerungenen Wiener Bravourleistung“ (Ulrich Weinzierl) leicht verschwindet. Als der bis dato erfolgreiche jüdische Schauspieler Leo Reuss aufgrund der immer engmaschiger werdenden Rassengesetze in NS-Deutschland 1935 endgültig keine Überlebensmöglichkeit mehr sieht und als Re-Emigrant in seiner österreichischen Heimat (er wurde 1891 als Mauriz Leon Reiss in Dolina, Galizien, geboren) ebenso wenig ein Unterkommen findet, greift er zu einem großangelegten Camouflageakt, geeignet, nicht nur sein (berufliches) Überleben zu sichern, sondern auch die politischen wie menschlichen Zustände im ständestaatlichen Wien von 1936 zu entlarven. Er stilisiert sich selbst als eine Art lebendes Gesamtkunstwerk zum urwüchsigen Bergbauern mit wallendem Rauschebart und etwas derben Manieren, dessen mimisches Naturtalent von Max Reinhardt bis Ernst Lothar alle Theatergranden der Zeit zu begeistern und zu überzeugen scheint.

In der Dramatisierung von Schnitzlers „Fräulein Else“ absolviert Leo Reuss alias Kaspar Brandhofer ausgerechnet als Herr von Dorsday am Theater in den Josefstadt sein begeistert aufgenommenes Bühnendebüt. Als er einige Tage später enttarnt wird – eine genaue Klärung der Abläufe und Beteiligungen dabei ist kaum möglich – lösen sich nicht nur alle Brandhofer gemachten Rollenangebote in nichts auf (Direktor Ernst Lothar fühlt sich nicht einmal mehr an die Einhaltung seines Vertrages gebunden). Düpiert fühlen sich auch alle jene, die im Naturtalent dieses aus den Tiroler oder Salzburger Bergen aufgetauchten blonden Kraftlackels mehr oder minder deutlich ein Symbol für die allerorten in der arischen Rasse schlummernden Begabungen gesehen hatten.

Diese Episode hat natürlich auch in der vorliegenden Biografie ihren Platz. Nachgestellt ist dem Band zudem ein eigenes Kapitel, das im Vergleich der Überlieferungsvarianten Lebenslügen, Ausblendungen, Beschönigungen und (Um)Interpretationen der beteiligten Akteure sichtbar macht: von Ernst Lothar, Adrienne Gessner und Hans Thimig über Theo Lingen, Leon Askin und Fritz Kortner bis zu Ernst Haeusserman oder Friedrich Torberg.

In der Biografie von Hilde Haider-Pregler bleibt besagte Episode aber auf ihren Platz verwiesen. Im Zentrum stehen Leben und beruflicher Werdegang des Schauspielers, Regisseurs und Theatermachers, geprägt und vielfach gebrochen von den historischen Ereignissen. Schon der Beginn seiner Karriere in Wien wird durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg um Jahre verzögert, ohne daß ihm die Dekorationen, die er im Feld sammelt, später dann im Kampf um seine staatsbürgerlichen Integrität helfen würden.

Seine ersten Bühnenerfahrungen beginnt Leo Reuss 1919 am Wiener Komödienhaus (Nußdorferstraße) zu sammeln, das für ihn zum Sprungbrett an die renommierte Neue Wiener Bühne wird, wo er bereits in Titelrollen auftritt. 1921 wird er an die Hamburger Kammerspiele engagiert. In der Folge arbeitet er am Berliner Staatstheater unter Leopold Jessner, dann an der Berliner Voksbühne, gemeinsam mit seiner langjährigen Lebenspartnerin Agnes Straub. Seine Karriere ist in dieser Zeit reich an interessanten und spannenden Aufgaben – er spielt und inszeniert (Regiedebüt 1927) unter Erwin Piscator, wirkt in Uraufführungen der Stücke von Marieluise Fleißer mit, erlebt 1923 sein Filmdebüt in einer kleinen Rolle im Stummfilmepos „I.N.R.I.“ an der Seite von Asta Nielsen als Maria Magdalena (der späteren Fernsehkommisar Erik Ode verkörpert das Jesuskind). 1930 inszeniert er für die Volksbühne Berlin Karl Kraus‘ Epoilog „Die letzte Nacht“ in Anwesenheit von Kraus, der Leo Reuss auch häufig in seinen Rundfunkbearbeitungen von Werken Offenbachs, Nestroys oder Shakespeares als Sprecher beschäftigt.

In dieser Zeit unternimmt er gemeinsam mit Agnes Straub und einer eigenen Theaterproduktion die erste Theatertournee, die er auch weitgehend selbst organisiert, sammelt erste Tonfilmerfahrungen, spielt 1931 in der Brecht-Inszenierung von „Mann ist Mann“ am Staatlichen Schauspielhaus Berlin. 1932 gründet er mit Agnes Straub und Fritz Genschow das Kollektiv „Theater der Schauspieler“ (im Repertoire u. a. Anna Gmeyners Stück „Automatenbufett“). Bis 1935 versuchen Leo Reuss und Agnes Straub mit ihrem Ensemble ihrer beider Überleben zu sichern. Es folgt die beschriebene Episode, die für Leo Reuss mit einem Vertrag der Metro-Goldwyn-Meyer – er nennt sich nunmehr Lionel Royce – zumindest den Weg ins Exil sichert. Geplant ist eine Verfilmung der Brandhofer-Stroy, die aus politischen Rücksichten jedoch nie zustandekommt. Entgegen der vielfach kolportierten Version, mit der Brandhofer-Episode habe sich Reuss den Weg ins US-amerikanische Exil geebnet, gelingt es ihm nie richtig, Fuß zu fassen. Bis zu seinem Tod 1946 lebt er von überwiegend kleinen Rollen, festgelegt auf den Typus des Nazi-Spions in meist drittklassigen Kriegs- und Kriminalfilmen.

Mit akribischer Genauigkeit und behutsamer Sorgfalt hat die Autorin das Leben und Schaffen Leo Reuss‘ rekonstruiert. Mit Souveränität läßt sie Lücken bestehen, wo sie nur über Vermutungen zu schließen wären – etwa was die Kindheit betrifft – und verzichtet auf das Ausschlachten von Details aus dem Privatleben, wenngleich aus den kurz angedeuteten weiteren Lebenswegen der von ihm verlassenen Frauen charakterliche Problematiken durchaus sichtbar werden. Ohne der Gefahr des Ausuferns zu erliegen, flicht sie Hinweise und Kurzinformationen zu Kollegen, Direktoren und Regisseuren ebenso ein wie zur Repertoireauswahl und dem historischen wie künstlerischen Standort der einzelnen Bühnen. Entlang der Lebensgeschichte des Schauspielers Leo Reuss entsteht so ein theater- und zeitgeschichtliches Kaleidoskop, das diese Biografie zu einer ebenso spannenden wie berührenden Lektüre macht.

Hilde Haider-Pregler Überlebens-Theater. Der Schauspieler Reuss
Biografie.
Unter Mitarbeit von Isabella Suppanz.
Wien: Holzhausen, 1998.
351 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 3-900518-66-1.

Rezension vom 26.02.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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