#Sachbuch

Geschichte der
österreichischen Kinder- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Hans-Heino Ewers, Ernst Seibert

// Rezension von Ulrike Diethardt

Wäre nicht der Titel, der eine Geschichte der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur von den Anfängen bis zur Gegenwart verspricht, wären einige der folgenden Kritikpunkte obsolet. Denn tatsächlich handelt es sich – worauf im Vorwort hingewiesen wird – bei diesem Sammelband einerseits um die Vorträge eines Symposiums zum Thema aus dem Jahr 1995, andererseits um für dieses Buch geschriebene Originalbeiträge. Was bei einem Symposiumsband unvermeidbar ist, nämlich eine unterschiedliche Qualität und mitunter inhaltliche Widersprüchlichkeit der Beiträge, ist bei einer Literaturgeschichte unverzeihlich. Hätte man nun nicht versucht, dem Werk das Gepräge einer historischen Gesamtdarstellung zu geben, könnte man über den Versuch, verstärkt auch für Österreich die „Kinder- und Jugendliteratur und deren geschichtliche Entwicklung als literaturwissenschaftliches Forschungsfeld aufzugreifen“ (S. 8) und auf Bereiche wie Kindertheater und Buchillustration auszuweiten, erfreut sein. Denn einige der insgesamt 23 Beiträge vermögen tatsächlich Desiderate zu füllen oder neue und zusätzliche Perspektiven auf die österreichische Kinder- und Jugendliteratur zu eröffnen.

Der erste Abschnitt des Bandes (vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg) zeichnet die zentralen Themen und Motive sowie die (lese)erzieherischen Prämissen der frühen Kinderliteratur in Österreich nach und stellt sie in gesellschaftspolitische Zusammenhänge. Karl Wagners Beitrag über Peter Rosegger, den „heimlichen Erzieher“ (S. 44) des 19. und halben zwanzigsten Jahrhunderts, öffnet den Blick für die Problematik der Kinderliteratur, der diese als eine Literatur von Erwachsenen für Kinder, eine Literatur zwischen Kunst und Pädagogik immer schon unterworfen war. Wagner zitiert bisher zum Großteil unveröffentlichte Briefstellen aus der Korrespondenz Roseggers, vornehmlich mit seinen Verlegern, die die Doppelbödigkeit von Kinderliteratur deutlich werden lassen: Welchen öffentlichen und pädagogischen Instanzen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen, welchem Kinderbild soll/muß genüge getan werden, was muß zu diesem Zweck umgeschrieben oder weggelassen werden, kann hierbei die Grenze der Kunst dennoch gewahrt werden oder wird sie – im Spannungsfeld zwischen Zensur und Selbstzensur – doch verraten, und nicht zuletzt: Gibt es einen ökonomischen Nutzen eines solchen Unterfangens? Zwei Beiträge über Kinderzeitschriften ab Mitte des 19. Jahrhunderts erweitern die Perspektive auf ideologische und gesellschaftspolitische Implikationen der Kinderliteratur.

Der Kinder- und Jugendliteratur der Ersten Republik – und den dreimaligen offiziellen „Säuberungen“ – nähert sich Viktor Böhm über Fragen nach der Literaturpolitik und -pädagogik, des Verlagswesens und des Publikums an, nicht ohne auf die immer noch fehlenden detaillierten Forschungen zu diesen Aspekten hinzuweisen. Dennoch hätten die beiden folgenden Beiträge über die proletarische Kinderliteratur und den psychoanalytischen Beitrag zur Kinderliteraturtheorie nicht ganz so flach ausfallen müssen.

Die Kinderliteratur aus der Zeit des Nationalsozialismus wird übersprungen, statt dessen findet sich der exzellente Beitrag über die Kinderliteratur im Exil von Ursula Seeber-Weyrer, die den Fragen nach Produktion(smotivation), Funktion und Rezeption dieser Literatur nachgeht. Unter Einbeziehung von (Auto)biografien genauso wie von Akten offizieller Stellen werden Aspekte offengelegt, die, ausgehend von der Extremsituation des Exils, weit über das Thema hinausgehen, da sie zeigen, welche Überlegungen und Erkenntnismöglichkeiten einer theoretischen Beschäftigung mit Kinderliteratur fehlen, die ausschließlich vom Buch ausgeht.

Was in den ersten beiden Kapitel des Bandes versucht wurde, nämlich den kultur- und gesellschaftspolitischen Hintergrund der Kinderliteratur mitzuliefern, fehlt über weite Teile im Abschnitt „Nachkriegszeit und Gegenwart“. Den großen Überblick ab 1945 liefert Christa Ellbogen, wobei ihr „die mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichneten Titel als ‚Wegweiser‘ dienen“ (S. 128). Ohne wissenschaftliche Distanz wird von einer sich entwickelnden „engagierte(n) Jugendschriftenbewegung“ gesprochen, die im Gegenzug zur Schmutz-und-Schund-Problematik „bemüht ist, der Jugend sprachlich anspruchsvolle und pädagogisch wertvolle Lektüre nahezubringen“ (S. 128). All jene, die an einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Zeit interessiert sind, müssen auf frühere Publikationen verwiesen werden – z. B. den Beitrag von Winfred Kaminski („Neubeginn, Restauration und antiautoritärer Aufbruch“) in der 1990 von Reiner Wild herausgegebenen Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur.

Kaminski übernimmt nicht fraglos die Paradigmen „guter“ Kinderliteratur, sondern arbeitet die Zusammenhänge zwischen Nationalsozialismus, unzureichender Motivation zur Vergangenheitsbewältigung und dem Kampf gegen Schmutz und Schund, dem sogenannten „unterwertigen Schrifttum“ und den Rückgriff auf eine „unpolitische“ Kinderliteratur in den Nachkriegsjahren heraus.

Der lange fehlenden Erinnerungsarbeit, der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit in der österreichischen Kinderliteratur gehen Peter Scheiner und Peter Malina in ihren Beiträgen nach und decken somit einen wichtigen Teil der Defizite der Überblicksdarstellung ab. Hans-Heino Ewers unterzieht die Kinderliteraturtheorie Richard Bambergs, die über Jahrzehnte für Österreich bestimmend war, einer kritischen Untersuchung, zeigt dessen sehr freien Umgang mit den Positionen Heinrich Wolgasts sowie Bambergers antimoderne Haltung auf und beweist schlüssig, daß die Theorie des „guten Jugendbuches“ sich als „Theorie nur einer historisch-spezifischen Ausprägung von Kinder- und Jugendliteratur“ (S. 150) erweist.

Kritische Beiträge über die mit dem Jugendbuch beschäftigten Institutionen, sei es dem – lange Jahre von Richard Bamberger geleiteten – Buchklub der Jugend oder der 1947 gegründeten Österreichischen Jugendschriftenkommission fehlen. An ihre Stelle treten Selbstdarstellungen.

Und an diesem Punkt nun erscheint das Aussparen der Zeit des Nationalsozialismus in diesem Band in noch schlechterem Licht. Kann es sich eine Literaturgeschichte Ende der neunziger Jahre leisten, der literarischen Produktion und Rezeption im Faschismus bzw. im Dritten Reich keinen Beitrag zu widmen und so jener (Kultur-)politik der Nachkriegszeit verhaftet zu bleiben, die ausgehend von der Opfertheorie eine Aufarbeitung lange Zeit unmöglich machte? Ist es zu rechtfertigen, daß die 1947 als Koordinations- und Clearingstelle der Jugendbuchproduktion gegründete Abteilung für Kinder- und Jugendliteratur (ursprünglich Jugendschriftenkommission beim Bundesministerium, aktuell im Bundeskanzleramt angesiedelt), mit dem Bemühen, konsensfähige Beurteilungskriterien zu erarbeiten, nicht mit wissenschaftlich-kritischer Distanz, sondern in Form einer Selbstdarstellung präsent ist? Ich glaube nein, und letztlich prolongiert dieser Sachverhalt genau jene Haltung der Nachkriegszeit, in der die Förderung von und die Maßnahmen zur Verbreitung der Kinderliteratur in hohem Maß monopolisiert und (konsens)politisch bestimmt war – sei es im Kampf gegen das, was als „Schmutz- und Schundliteratur“ definiert wurde, sei es als Abwehrstrategie gegen die sogenannte Kulturkrise der Jugend in den fünfziger Jahren oder für den Aufbau eines bestimmten Österreichbewußtseins. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Buchklub (nicht zuletzt durch die Verankerung in den Schulen), Jugendschriftenkommission und Verlegern ermöglichte es, die Richtlinien für das sogenannte gute Kinder- und Jugendbuch in den Bereichen Produktion, Verteilung und letztlich auch Rezeption in breitem Ausmaß durchzusetzen. Einzelstudien dazu, v. a. (zum Teil publizierte) Hochschularbeiten seit den achtziger Jahren, sind vorhanden – Hinweise darauf fehlen in dem vorliegenden Band jedoch häufig. Den Hintergrund der „gesellschaftspolitischen Zusammenhänge“ (Presseinformation zum Buch) erhellen die Zeittafeln zu den Kapiteln nicht, die unter den jeweiligen Jahreszahlen in erste Linie Erscheinungsdaten von Büchern oder historische Ereignisse auflisten. Unter „1945“ ist zu lesen, daß die ersten Verlage wieder entstehen und sich „ein neuer Ansatz einer neuen Kinder- und Jugendliteratur von nationalsozialistisch unbelasteteten AutorInnen“ entwickelt (S. 126). Hier sei wiederum auf die von Reiner Wild herausgegebene Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur verwiesen. Auf österreichische Verhältnisse bezogen vermißt man im vorliegenden Band Realitätsbezüge, z. B. jene, wie sie vom Buchklub 1952 erhoben wurden: daß in diesem Jahr laut einer Umfrage an Pflichtschulen rund 200.000 Kinder kein einziges Buch besaßen (nachzulesen bei Bamberger: Jugendlektüre, 1955, S. 40) oder, daß bis etwa 1955 vorwiegend schon vor 1933 erschienene Kinderbücher wiederaufgelegt wurden (Bamberger: Jugendschriftenkunde, 1976, S. 148). In den „Einleitenden Bemerkungen“ wurde man darauf vorbereitet, daß die „notwendige Miteinbeziehung von verlagsgeschichtlichen Aspekten […] wegen des gänzlichen Mangels an Grundlagen“ (S. 9) ausgeklammert werden mußte. Dies stimmt – wie eine Recherche in den Katalogen der Österreichischen Nationalbibliothek zeigen kann – nicht ganz, und, was die gesellschaftspolitischen Aspekte betrifft, gar nicht.

Letztlich ist noch die Ausstattung des Bandes zu bemängeln. Was als Literaturgeschichte daherkommt und damit ja auch Dauerhaftigkeit präjudizieren möchte, sollte es auch von der Papierqualität her einlösen können.

Wer aber einen ersten Überblick über die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in Österreich erhalten möchte, sollte sich von den Kritikpunkten dennoch nicht abschrecken lassen. Der gebotene Überblick wird zum Teil brillant, zum Teil äußerst lückenhaft sein.

Hans-Heino Ewers, Ernst Seibert (Hrsg.) Geschichte der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Wien: Verlag Buchkultur, 1997.
206 Seiten, broschiert.
ISBN 3-901052-32-1.

Rezension vom 08.01.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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