Das erste Kapitel, Ort (1000%), und das letzte, Ort (in Aspern), erzählt von Michael, der sich über eine Dating-App mit Sebastian trifft, von diesem bestohlen und gedemütigt wird; das zweite Kapitel, Brigitte, widmet sich der titelgebenden Figur, die von ihrem Blind-Date Stevan, eigentlich Milan, belogen wird und wohl unter einer Essstörung leidet. Protagonist des dritten Kapitels, Äpfel, ist Tobias, der von den Eltern zum dementen Großvater gebracht wird, während seine Mutter ein Kind bekommt. Was die Episoden und Figuren miteinander verbindet, ist nicht nur die Suche nach bzw. das Vermissen von Liebe und – im Fall von Michael und Brigitte – Sexualität, sondern vor allem das Erfahren von Peinlichkeiten und Gewalt auf unterschiedlichen Ebenen, die Konfrontation mit der eigenen Verlorenheit.
Suess arbeitet die Abgründigkeit des zwischenmenschlichen Erlebens, den Schmerz der scheiternden Begegnungen akribisch heraus und legt den Fokus auf das Peinliche, den Ekel, das Tabubrechende. Als originärer Schauplatz dafür hat sich in der Literatur, vor allem in der österreichischen Literatur, schon immer die Toilette erwiesen, der Abort. Es ist ein Ort, der eigenen Regeln folgt; ein Ort, der eigentlich abgeschlossen ist nach außen und über den geschwiegen wird. Die Öffnung dieses Ortes und seine Wahl als Schauplatz ist damit auch immer ein Tabubruch – man denke etwa an Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin (1983) oder Peter Handkes Versuch über den stillen Ort (2012), vor allem aber an Marlene Streeruwitz’ New York. New York. (1993) und an Werner Schwabs DIE PRÄSIDENTINNEN (1991). In diesem ersten der Schwab’schen Fäkaliendramen ist der Abort die Obsession der Figur Mariedl und in ihren immer neuen Lobgesängen auf ihn wird die Abgründigkeit der sozialen Dramen und ihrer gesellschaftlichen Verleugnung deutlich: „Und überhaupt haben alle Menschen eine Fröhlichkeit im Herzen und gehen fast über vor Glück, fast wie ein verstopfter Abort.“
Der Abort ist in Drei oder vier Bagatellen in allen Episoden zentral, schon das Titelblatt zeigt ihn, zeigt Tobias aus Äpfel aus der Vogelperspektive, sitzend am Klo. Tobias macht in die Hose, verstopft das Klo mit seiner Unterhose, holt sie wieder heraus, verletzt sich beim Versuch sich zu waschen und versucht erfolglos, die Hose zu entsorgen. In dieser kurzen Episode entwickelt Suess die ganze Tragödie dieser Figur, ihre Flapsigkeit, Einsamkeit, Verzweiflung, ihre Peinlichkeit. Die Toiletten sind in Drei oder vier Bagatellen Schauplätze der scheiternden (sexuellen) Begegnung, der bulimischen Anfälle, der kindlichen Verzweiflung. Sie sind Orte des Ekels, an denen Körperausscheidungen und mit ihnen Emotionen und Leid hinunter- und – im Falle von Tobias – wieder hochgespült werden.
Die Ab-örtlichkeiten und Ab-gründe bändigt Suess durch eine strikte Struktur: Mit wenigen Ausnahmen erzählt er in quadratisch angeordneten Viererpanels und in den – seine Arbeit kennzeichnenden – Bleistiftzeichnungen. Motivisch liegt der Fokus auf dem Sehen und Tun: Suess konzentriert sich auf Hände und Gesichter – zeichnet Hände, die sich verschränken und wieder voneinander lösen, zeichnet Gesichter, die sich nähern und wieder voneinander entfernen. Detailliert werden so Emotionen gefasst, wird ein Versuch der Introspektion unternommen – und wieder zurückgenommen, denn Drei oder vier Bagatellen zeigt auch die Unmöglichkeit des gegenseitigen Verstehens.
Dieses Scheitern vollzieht der Comic inhaltlich durch die misslingenden Begegnungen, aber vor allem durch die Form. Dabei spielt nicht nur die Kürze der Episoden eine zentrale Rolle, wodurch eben nur ein Einblick gegeben werden kann, sondern vielmehr markiert Suess diese Distanz auch explizit zeichnerisch. Immer wieder sehen wir die Figuren nur in beschlagenen oder verwischten Spiegeln und Scheiben – so etwa Brigitte, in jener Szene, in der sie sich im Bad auf das Date mit Stevan/Milan vorbereitet. Sie werden überdeckt von Schnee und Regen – so Michael, als er in der ersten Episode von Sebastian dazu gezwungen wird, aus dem Klofenster zu hüpfen.
Durchgängig wird den Leser:innen diese letztlich unüberbrückbare Distanz zu den Figuren, die notwendig fehlende vollständige Einsicht durch Blickbarrikaden verdeutlicht, indem schwarze Flächen ins Blickfeld geschoben werden. Im letzten Panel, das Michael von hinten aus dem Klofenster hüpfend zeigt, wird Sebastians Silhouette ins Bild geschoben, nimmt fast die Hälfte des Panels ein und erweckt den Eindruck, als müssten wir ihm über die Schulter schauen. Wir sehen damit sozusagen auch unsere eigene Neugierde, die aber eben nur zum Teil befriedigt wird.
Der Versuch der Nahaufnahme und die Einsicht über das Scheitern daran, markiert Franz Suess’ Figuren – etwa auch in Paul Zwei (Luftschacht, 2019), Diebe und Laien (avant, 2022) oder in dem 2024 mit dem Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichneten noch unveröffentlichten Jakob Neyder. Suess’ Arbeiten sind akribische Psychogramme, die die Verfasstheit ihrer Figuren und ihr soziales Gewordensein in den Blick nehmen, sich dem Tabuisierten und dem Ekelhaften widmen, in denen Bagatellen die großen Tragödien bündeln und sich gleichzeitig des eigenen Erzählens bewusst sind.
Marina Rauchenbacher ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin sowie Kulturvermittlerin. Sie arbeitet am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies (IKM) der Universität für Musik und darstellende Kunst (mdw) im Projekt Visualitäten von Geschlecht in deutschsprachigen Comics sowie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Editionsprojekt zu Arthur Schnitzlers Frühwerk. Sie ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Comics (OeGeC) sowie Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Kulturanalyse (aka). Für das Sigmund Freud Museum Wien kuratierte sie unter Mitarbeit von Daniela Finzi die Comic-Ausstellung Gewalt erzählen (20. Oktober 2023 bis 8. April 2024).